Gibt es wirkliche Präsenz online?

Newsletter #12 vom 18.01.2025

Präsenz gehört zu den zentralen Wirkfaktoren bedeutsamer Begegnungen in Psychotherapie und Beratung. Online-Formate nehmen in diesen Bereichen immer mehr zu. Auch im Bildungsbereich spielt Präsenz eine zentrale Rolle. Gibt es aber wirkliche Präsenz online?

Können wir überhaupt wirksame Psychotherapie erwarten, oder transformative Begegnungen im Online-Kontakt?

Ich denke, diese Frage ist von grundlegender Bedeutung dafür, wie wir unseren Beruf ausüben und unsere persönliche Entwicklung gestalten.

Wenn Sie also nur wenig Zeit haben, lesen Sie den Newsletter lieber zu einem späteren Zeitpunkt, oder überfliegen Sie ihn zunächst, um sich einen Eindruck zu verschaffen, ob Sie das Thema eingehender beschäftigt.

Warum ist die Frage nach Präsenz auch im Online-Kontakt so wichtig?

Bestimmte Erfahrungen entstehen erst dann, wenn wir sie als bedeutsam erleben, uns von ihnen berührt fühlen und ihnen einen verändernden Stellenwert beimessen. Diese Eigenschaften schreiben wir oft der sogenannten Präsenz zu.

Meine Frage, die ich mit Ihnen heute mit meinem Newsletter diskutieren will, betrifft den Umstand, dass dabei so oft zwischen Präsenz- und Online-Veranstaltungen unterschieden wird.

Hier wird von einem Präsenzbegriff ausgegangen, der die physische Anwesenheit meint.

Dass wir hören, riechen, spüren und die Anwesenheit des oder der Anderen im gleichen Raum wahrnehmen können.

Das kam während der Corona-Pandemie zum Beispiel darin zum Ausdruck, dass immer wieder “Präsenz-“ Veranstaltungen durch Online-Veranstaltungen ersetzt wurden, um den direkten Kontakt zueinander zu vermeiden und so das Ausbreiten des COVID-19-Virus zu verhindern.

So viel zu dieser verbreiteten Definition von Präsenz.

Aber was ist mit der Erfahrung, die wir aktuell teilen, während wir uns – durch Zeit und Raum getrennt – Gedanken über diese Frage machen? Gibt es dann überhaupt Präsenz online?

Was lösen meine Gedanken in Ihnen an Assoziationen und weiterführenden Ideen, vielleicht auch Gefühlen aus?

Vielleicht halten Sie einen Moment inne, um zu spüren, was gemeint sein könnte?

Haben Sie eben, als ich von der Pandemie schrieb, eine Reaktion bemerkt, eine Erinnerung an diese Zeit gehabt, ein Gefühl verspürt?

  • Was ist mit Verbundenheit, die wir manchmal wahrnehmen, obwohl wir nicht zur gleichen Zeit im gleichen Raum sind?
  • Ist darin auch eine Form von Präsenz möglich, und wenn ja, wovon ist sie geprägt?
  • Was macht aus einer Erfahrung eine Präsenz-Erfahrung?
  • Und macht es überhaupt Sinn, sich dieser Frage so eingehend zu widmen?

Warum Präsenz so zentral ist

Ich schreibe diesen Newsletter und stelle mir während dessen vor, dass eine Verbindung zwischen uns entsteht, während Sie diese Zeilen lesen.

Ich versuche einmal, mich dabei in Sie hineinzuversetzen.

  • Was spricht Sie in diesem Gedanken an, den Sie vielleicht vor wenigen Momenten noch nicht hatten, und den ich Ihnen “präsentiere?”
  • Haben Sie die Zeit gefunden, diesen Newsletter zu lesen, um aufmerksam wahrzunehmen, was meine Gedanken für Sie persönlich bedeuten, in Ihnen anstoßen und Sie zu eigenen Gedanken anregen? Oder blättern Sie gedankenverloren durch Ihre Emails, während der Kaffee kocht und sie gleich zu Ihrem Einkauf am Samstagmorgen aufbrechen werden?
  • Sind Sie neugierig, interessiert, irritiert? Haben Sie bestimmte Vorstellungen, was Sie erwartet, vielleicht aufgrund von Vorerfahrungen mit mir, dem Autor dieses Newsletters, meiner Website, meiner LinkedIn-Präsenz (sic!) oder anderen, digital vermittelten Eindrücke auf Ihrer Netzhaut und in Ihrem Gehirn?

Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit etwas “zwischen uns passiert,” d.h. vielleicht vergleichbar mit einer Begegnung, in der etwas Bedeutsames entsteht, gedanklich, emotional oder physisch-körperlich? Welche Rolle spielt bei der Präsenz-Erfahrung die Aufmerksamkeit, mit der wir die Situation wahrnehmen?

Dazu zwei für meinen Alltag nahe liegende Anwendungsbeispiele, die den Kontext für diesen Newsletter bilden:

  1. Lässt sich Buddhismus online praktizieren?
  2. Kann Psychotherapie und Beratung online vergleichbar wirksam werden, wie es im persönlichen Beisammensein möglich ist?

Lässt sich Buddhismus online praktizieren?

Ein großer Teil meiner buddhistischen Praxis findet mit Menschen statt, die in anderen Zeitzonen und auf anderen Kontinenten leben.

Eben – während meiner heutigen Meditation – habe ich an einem Gruppengespräch mit Jack Kornfield teilgenommen, dessen “Year of Awakening” Online-Programm ich besuche.

Wir treffen uns einmal im Monat in einem Zoom-Meeting. Ich kann Fragen stellen, den Fragen anderer Teilnehmer*innen zuhören und den Gedanken, die Jack Kornfield dazu äußert, folgen.

Ich habe heute bewusst darauf geachtet, was die gesprochenen Worte in mir auslösen, habe dabei aufmerksam darauf geachtet, in was für einer Situation diese Begegnung stattfindet, und habe bei mir Dankbarkeit, Interesse, ein Mitschwingen und wache Gedanken wahrgenommen, die durch den Austausch ausgelöst wurden.

Ich befand mich in einer kontemplativen Verfassung. Ich habe mich bewusst auf diesen Aspekt konzentriert, weil ich herausfinden wollte, welche Rolle meine innere Haltung spielt. Dazu habe ich ein paar Minuten vor dem Beginn des Meetings meditiert und so den Übergang von meiner Tagesaktivität in meiner Praxis zum Zoom-Meeting bewusst so gestaltet, dass meine Aufmerksamkeit hoch und meine Intention klar war.

Ich habe dieses Meeting als eine Form der Präsenz empfunden. Warum

  • Ich teile mit den Menschen, die daran mitwirken, mein Interesse an diesem Programm.
  • Ich befinde mich zwar an verschiedenen Orten, aber ich erlebe das Treffen gleichzeitig und sehe, höre und empfinde, was Jack Kornfield sagt, wie er es sagt und was er durch seine Gestik und Mimik in mir auslöst.
  • Ich fühle mich mit ihm verbunden und höre, dass er sich mit mir verbunden fühlt, auch wenn er mich nicht mit Namen und als Individuum anspricht, sondern als Teil einer Gruppe, mit der er gerade praktiziert.
  • Die Begegnung hat in mir etwas ausgelöst, das mich heute noch begleitet, bewegt. Ich habe mir im Nachhinein Notizen gemacht, aber ich spüre etwas, das über eine Wissensvermittlung hinausgeht.

Eine weiteres Beispiel: meine Dharma-Lehrerin Christiane Wolf lebt in Los Angeles. Wir zoomen einmal im Monat miteinander. Ich habe sie im vergangenen Jahr in einem Retreat in Österreich, das sie geleitet hat kennengelernt. ​Ich berichtete davon vor drei Monaten in diesem Newsletter.​

Dharma – das Wort in Sanskrit heißt übersetzt „Realität“ oder „Lehre“, je nach dem Kontext. Beides passt. Unsere Verbindung ist sehr persönlich. Ich teile mit ihr meinen Wunsch, einer Tradition von Buddhist*innen anzugehören, die über viele Jahrhunderte und mehrere Kontinente hinweg bis in die Vergangenheit der “geistigen Vorfahren” reicht, die diese Tradition (die Thai Forest Tradition des Theravada Buddhismus) gegründet haben.

Ich erzähle ihr von meinen Erfahrungen während meiner Meditationspraxis, und stelle ihr Fragen. Unser Gespräch ist dynamisch, unvorbereitet und von einer Vereinbarung getragen, dass sie mir in unseren Begegnungen den Dharma vermittelt, d.h. die Lehre des Buddha aus Sicht dieser Tradition, so wie sie ihrer “Sicht auf die Wirklichkeit” entspricht.

Was ist hier, in diesem Fall, Ausdruck von Präsenz?

Ich werde darauf gleich eingehen. Aber zunächst noch zu einem weiteren Anwendungsbeispiel, in dem Online-Präsenz bedeutsam wäre.

Kann Psychotherapie und Beratung online vergleichbar wirksam werden, wie es in persönlicher Anwesenheit möglich ist?

Ein weiteres Anwendungsbeispiel betrifft meine Arbeit als Psychoanalytiker und als Supervisor:

  • Ich arbeite mit Supervisand*innen online.
  • Ich leite die Selbsterfahrung einer Kollegin, die Psychoanalytikerin werden will, online. Sie kann nicht regelmäßig in meine Praxis kommen.
  • Ich arbeite mit einer Patientin, die aufgrund ihres Berufes in ihrem Wohnort keine Psychotherapie beginnen kann, ebenfalls online.

Ist in solchen Situationen Präsenz erfahrbar? Lässt sich Präsenz mit Hilfe der Telekommunikation (oder deren Umständen zum Trotz) “produzieren,” wie der Philosoph Hans Ulrich Gumbricht, einer der Begründer der Präsenzphilosophie, es bezeichnet?

Welche Voraussetzungen fördern das Entstehen einer Präsenzerfahrung? Und lässt sich da etwas lernen von der Erfahrung, die ich in meiner Beschäftigung mit Präsenz im therapeutischen Kontext bereits “offline” gesammelt habe?

In meinen Sitzungen erlebe ich Vieles, was ich auch in meiner Praxis in den therapeutischen oder supervisorischen Gesprächen erlebe. Das reicht von tiefer Bewegung, emotionaler Intensität, persönlicher, innerer Berührung bis zu Situationen, die der Psychoanalytiker Daniel Stern (2004) als “Now-Moments” bezeichnet.

Ich fühle etwas leiblich. Mir kommen die Tränen. Ich gähne vor Müdigkeit (ausgelöst durch einen Beziehungsmoment im Gespräch) oder ich lache und spüre dabei meinen Körper. Manchmal fühle ich mich angespannt, mitunter unruhig, nehme meinen schnellen Herzschlag wahr, wenn ich aufgeregt bin.

Ich glaube, dass dazu die uns Menschen üblicherweise eigene Fähigkeit der Einfühlung notwendig ist, die uns das emotionale Geschehen im Anderen auch leiblich vermittelt.

Aber ich berühre mein Gegenüber nicht, rieche nichts von ihr oder ihm, nehme seine oder ihre Gegenwart im Raum nicht wahr.

Akustik und Optik sind geprägt von den guten oder schlechten Voraussetzungen der medialen Vermittlung. Ich nehme die technische Ebene der Kommunikation wahr, erkenne den zweidimensionalen Computer-Bildschirm, spüre ein “Fehlen” der anderen Person manchmal schmerzlich, gerade wenn intensive Gesprächsmomente entstehen.

Ist das Präsenz? Ich meine, Ja.

Aber was ist mit dieser sinnlichen Erfahrung? Müssen wir Präsenz nicht als etwas betrachten, das von der Sinneswahrnehmung vermittelt wird?

Welche Rolle spielen die Sinnesorgane bei der Präsenz?

Im Online-Kontakt werden die Sinneseindrücke technisch vermittelt. Die auf meiner Netzhaut durch die visuelle Wahrnehmung stattfindende Erregung wird hervorgerufen durch das mittels Kamera und Bildschirm hergestellte, optische Moment der Begegnung.

Unmittelbarkeit zwischen den am Gespräch beteiligten Menschen? Nein.

Das geschieht ja technisch vermittelt, eben “medial.”

Aber was ist in diesem Sinn “unmittelbar?”

Der visuelle Eindruck des Gegenübers im gleichen Raum wird ebenfalls vermittelt durch das Licht im Raum, den Einfallwinkel der Beleuchtung, die Lichtbrechung der Luft, die Lenkung der Strahlungen durch meine Brille etc.

In jedem Fall ist der visuelle Eindruck im persönlichen Gegenüber weniger beeinflusst, aber gänzlich unvermittelt geschieht hier auch – nichts. Kein Licht – kein Bild.

Soweit zur Optik.

Auf ähnliche Art und Weise lassen sich viele Aspekte der sinnlichen Wahrnehmung weiter untersuchen.

Es spielt dabei eine bedeutsame Rolle, welche graduellen Unterschiede es in diesen Einflüssen gibt, das ist nicht zu leugnen. Aber ist die Erfahrung von Präsenz deswegen unmöglich?

Lassen Sie uns noch etwas weiter schauen.

Was wir in der Psychoanalyse mit Daniel Stern als Gegenwartsmoment beschreiben, betrifft ein Phänomen, das mit Resonanz einher geht, wie sie Dunja Voos in ihrem ​Blog “Medizin im Text”​ beschreibt.

Voos zitiert dabei den Soziologen Hartmut Rosa, der Resonanz auch als das Wirkprinzip der Präsenz versteht, und auch die Voraussetzungen beschreibt, die für eine solche Erfahrung hilfreich oder sogar notwendig sind.

Was sind die Voraussetzungen von Präsenz?

Ich werde in diesem Newsletter vermutlich keine erschöpfende Antwort finden, aber vielleicht etwas skizzieren können, das Ihnen und mir weiterhelfen kann.

Es wird Sie nicht verwundern, dass ich bei der Präsenz von etwas ausgehe, das sich praktizieren lässt. Nicht umsonst heißt dieser Newsletter “Praxis der Präsenz.”

Inspiriert durch obige Erfahrungen, die mich in Online-Kontakten haben spüren lassen, was ich als Präsenz bezeichnen würde, will ich beschreiben, wie sich Präsenz ermöglichen lässt, also zumindest günstige Umstände dafür schaffen lassen.

Eines der Charakteristika von Präsenz bzw. Resonanz ist, dass sie sich nicht steuern oder kontrollieren lässt.

Wenn Hans Ulrich Gumbrecht (2012) in seiner Philosophie der Präsenz gar von “Produktion der Präsenz” spricht und damit den “materiellen,” dinglichen Charakter der Präsenz bezeichnet, der die Wirksamkeit der “Dinge” prägt, dann heißt das nicht, dass wir Präsenz im konkreten Sinne herstellen und kontrollieren können.

Online wirkt die Getrenntheit von Raum und Zeit erst einmal als ein Hindernis, das wir überwinden müssen. Zugleich kann ich jedoch diese Möglichkeiten, die durch die Online-Kommunikation entstehen, auch als Chance betrachten, mit Menschen zusammenzukommen, die sich eben nicht am gleichen Ort mit mir aufhalten. Diese Mühe kann sich also lohnen.

Um also günstige Voraussetzungen für eine Präsenzerfahrung herzustellen und Resonanz auch online zu ermöglichen, benötigen wir aus meiner Sicht u.a. die folgenden, vier maßgeblichen Faktoren:

  • Intention
  • Verbundenheit
  • Achtsamkeit
  • Emergenz

Zu den einzelnen Faktoren schreibe ich kurze Absätze, mit denen ich sie Ihnen etwas näher bringen möchte.

Intention

In der Begegnung teilen wir Gemeinsamkeiten, die getragen sind von einer Intention. Wir verabreden uns, treffen uns mit einer Absicht und nutzen dazu eine bestimmte Motivation, die uns z.B. warten, zuhören und Geduld aufbringen lässt.

Wenn wir uns mit der Intention einer bedeutsamen Erfahrung und persönlichen Begegnung auf einen Kontakt einlassen, dann entsteht Aufmerksamkeit. Wir nehmen eine offene Haltung ein, die uns innerlich auf das angestrebte Erleben ausrichtet.

Hierzu eine kleine Übung:

versuchen Sie einmal, vielleicht während Sie einen Moment innehalten und ihre Augen schließen, eine Absicht in sich entstehen zu lassen, die Präsenz von jemand, mit dem Sie sich nicht im gleichen Raum befinden, wahrzunehmen.

Vermutlich wird es Ihnen nicht auf Anhieb gelingen, diese Präsenz direkt zu spüren. Aber was ist mit der Intention? Ist sie erlebbar?

Wenn ja: was spüren Sie? Wo spüren Sie es? Lässt es sich nur denken, oder auch wahrnehmen? Was macht Ihr Körper währenddessen? Spüren Sie eine Veränderung (und wo) wenn Sie in sich eine Absicht formulieren, ein Vorhaben, eine Intention?

Verbundenheit

Was lässt uns spüren, dass wir mit jemand verbunden sind? Die physische Anwesenheit ist ein uns allen vertrauter Aspekt davon. Aber sie reicht weder aus, noch muss sie gegeben sein, um die Präsenz erfahrbar zu machen.

Was jedoch erforderlich ist, entsteht in dem Moment, wo wir ein Gefühl der Verbundenheit erleben. Diese Verbundenheit können wir sowohl empfinden, wenn wir einander physisch berühren, als auch in Situationen, in denen wir “eines Geistes Kind” sind, uns einer gemeinsamen Sache widmen oder uns einander interessiert zuwenden und öffnen.

Dabei entsteht etwas, das wir aus unserer Einfühlung in den anderen heraus wahrnehmen und mit der Begegnung in Verbindung bringen können.

Achtsamkeit

Um Präsenz zu praktizieren, benötigen wir günstige Voraussetzungen, die uns dabei behilflich sind, genau wahrzunehmen, was im Hier und Jetzt passiert, was unsere Intention ist und durch unsere Einfühlung zugänglich wird.

Die Gegenwärtigkeit (ein anderer Ausdruck für Präsenz) ist in diesem Moment erfahrbar, zu keinem anderen Zeitpunkt. Das müssen wir ausprobieren, erleben, üben. Wir richten unsere Aufmerksamkeit darauf.

Nun ist Achtsamkeit gerade dadurch gekennzeichnet, dass wir das Ausmaß des “Gewollten” begrenzen, und das Maß des Erlebten, die “Erfahrung an sich” erhöhen. Doch ohne eine gewisse Intention würden wir niemals etwas üben oder praktizieren können, das nicht von sich aus schon da ist. Wir wären mit unseren Überlegungen zu dieser Frage bereits am Ende angelangt.

Ich glaube, dass es einer gewissen Balance bedarf, um mit diesem Gedanken zu spielen.

Auch dazu eine Übung:

Betrachten Sie für einen Moment (vielleicht erneut mit geschlossenen Augen) Ihren Körper als den Erfahrungsraum, als eine Art Gefäß, der Ihnen zur Verfügung steht, um Präsenz zu erfahren, auch wenn jemand nicht anwesend ist.

Dafür ist es hilfreich, diesen Körper “als Körper” wahrzunehmen.

Gar nicht so einfach, oder? Aber vielleicht gelingt es Ihnen, wenn Sie sich auf ein Körperteil beschränken, und versuchen, Ihre linke Hand zu spüren. Was für Qualitäten können Sie unterscheiden? Temperatur – Spannung – Gewicht – Ausdehnung – Kontakt?

Je detaillierter Sie diese Wahrnehmungen voneinander unterscheiden können, desto hilfreicher. Je vertrauter Ihnen diese Art der Selbstwahrnehmung ist, desto eher wird es Ihnen gelingen, eine Erfahrung zu machen, von der Sie sagen können, dass sie für sie bewegend, bedeutsam, vielleicht sogar transformativ ist.

Wir fühlen uns in einer Weise ergriffen, die uns dazu anregen kann, über etwas nachzudenken, das über uns selbst hinaus weist, ja vielleicht nur schwer in Worte zu fassen ist.

Emergenz

Bei dieser Voraussetzung handelt es sich um den Teil eines Prozesses, der durch das nicht vorhersehbare Zusammentreffen einzelner Faktoren zu einem neuen Ergebnis, einer Veränderung eines Systems führt, das nicht durch die Beschaffenheit der daran beteiligten Teile erklärbar ist.

Die sich daraus bildenden Veränderungen sind in sofern bemerkenswert, als sie „dazwischen“ lokalisierbar sind, also in der Art, wie eine Beziehung sich verändert, oder „darüber hinaus“ weist, also die klassische Voraussetzung für das Sprichwort bildet:

Das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.

Emergenz entsteht als Ergebnis spontaner Selbstorganisation von Systemen. Sie ist sinnbildlich für die Offenheit einer Erfahrung, die „aus dem Geschehen“ heraus entsteht. Damit kommen wir einem Charakteristikum der Präsenz nahe, dass die einander begegnenden Beteiligten nur in dieser Form der Begegnung zu diesem Moment das beobachtbare Ereignis hervorbringen.

Was ist daran aber so bedeutsam? Emergenz weist eine besondere Eigenschaft auf, die wir positiv bewerten können: die Unvorhersehbarkeit und Komplexität der Umstände fördert das, was in der Präsenz als Motor für Veränderung wirkt, und erhöht zugleich die Wahrscheinlichkeit für eine höhere Stabilität der bewirkten Veränderung. Das lässt sich in evolutionären Prozessen beobachten. Was hier sehr kompliziert klingt und letztlich auch ist, wenn wir dem Konzept der Emergenz wirklich auf den Grund gehen wollen, heißt jedoch für unsere Zwecke:

Trust the process.

Wir können uns in einer Haltung üben, die es uns erleichtert, die Kontrolle abzugeben, Loslassen und Nicht-Wissen zu üben, und sich dem Geschehen in einer Weise zuzuwenden, die das Entstehen von Emergenz fördert.

Wie lässt sich das nun mit der Intention in Einklang bringen?

Das Entscheidende am Zusammentreffen beider Voraussetzungen ist, dass hier die Haltung den Spielraum erschafft. Haltung = Intention = Raum für das, was sich ereignet.

Können wir Präsenz als Wirkfaktor bedeutsamer Erfahrungen bezeichnen?

Noch einmal: Welchen Wert hat es nun, sich diese Gedanken zu machen?

Ob eine Erfahrung für uns bedeutsam wird, hängt meines Erachtens von der Präsenz ab, mit der wir etwas erleben, und den Charakteristika einer Begegnung, in der wir diese Erfahrung mit anderen teilen.

Wie ist das also im Fall der von mir beschriebenen Situationen aus meiner buddhistischen und psychotherapeutischen Praxis?

Ich erkenne in meinen Begegnungen, die ich beschrieben habe, die von mir genannten Voraussetzungen in unterschiedlich gewichteter Weise. Ihnen gemeinsam ist jedoch, dass diese Erfahrungen für mich eine transformative Kraft besitzen.

Ich studiere den Buddhismus nicht als eine für mich neutrale Philosophie, sondern ich praktiziere das, was ich erforsche, und finde dabei für mich persönliche Bewertungen, die ich mit anderen teilen kann, aber nicht als allgemein gültige”Wahrheit” bezeichne.

Das, was ich dabei lerne, verändert mich und die Art meines “in der Welt seins.”

Sie könnten nun vermuten, dass ich diese Beispiele verwendet habe, um meinen Gedankengang zu illustrieren, und natürlich ist das so. Ich möchte Sie ja auch nicht davon überzeugen, dass ich mit meinen Überlegungen Recht habe.

Meine Absicht ist, Ihnen etwas mitzuteilen, das aus meiner Sicht so relevant ist, dass es zu einer Form geteilter Wirklichkeit werden könnte, wenn Sie nachvollziehen und sich damit auseinandersetzen können, was ich beschreibe.

Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und bin sehr neugierig, welche eigenen Gedanken es in Ihnen auslöst.

  • Welche Erfahrungen von Online-Präsenz haben Sie selbst bereits gemacht?
  • Können Sie weitere Voraussetzungen finden, die in meine Auswahl noch aufgenommen werden sollten?
  • Oder bezweifeln Sie, dass Präsenzerfahrungen online gemacht werden können?

Über Ihre Gedanken dazu würde ich mich freuen.

Und jetzt: in die Praxis.

Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,

Sönke Behnsen

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