Wenn alte Muster unser Leben bestimmen: So wirkt Achtsamkeit in der tiefenpsychologischen Psychotherapie

Wie kann Achtsamkeit in der tiefenpsychologischen Psychotherapie Patient*innen und Therapeut*innen dabei unterstützen, hemmende Einflüsse aus belastenden Kindheitserfahrungen zu überwinden?

Lassen sich Achtsamkeitstechniken in die psychodynamische Behandlung integrieren?

Welche Vorteile hat es, mit Patient*innen "im Hier und Jetzt" zu arbeiten, auch wenn sie sich eine "Aufarbeitung ihrer Kindheit" wünschen?

Fallbeispiel, Teil 1

Frau B. ist 12 Jahre alt, als ihre Mutter nach langer Krankheit stirbt. Noch heute – als 45jährige – fühlt sie sich von der Trauer um diesen Verlust bestimmt. Obwohl sie es in ihrem Beruf weit gebracht hat, wirkt sie unzufrieden und leer. Depressive Gedanken füllen ihren Kopf mit Endlosschleifen.

Man hat ihr empfohlen eine Psychoanalyse zu machen, um „ihre Kindheit aufzuarbeiten.“ Darum sitzt sie jetzt bei mir.

Nachdem ich einige Zeit versucht habe mit ihr über seine Situation nachzudenken, ist mein Eindruck: Egal was ich sage, Frau B. stimmt mir „hundertprozentig“ zu, kommt jedoch immer wieder auf ihre alte Erklärung zurück, dass sie immer noch um ihre Mutter trauere.

Meine Hinweise darauf verhallen in einem „Ja, aber…“, so als wenn das „Ja“ für mich bestimmt wäre, damit ich mich wohl fühle, das „aber“ jedoch dafür sorgt, dass alles beim Alten bleibt. Es scheint ein altes Muster zu sein, das ihr Leben bestimmt.

Ich irritiere sie mit dem Gedanken, dass es eine wichtige Funktion geben muss, die dieses alte Muster erfüllt, dass es eine solche Widerstandskraft gegenüber all ihren bisherigen Versuchen zeigt, etwas zu verändern.

Es darf offenbar nichts Unstimmiges geben, das nicht zugleich entkräftet und dadurch neutralisiert wird. So kommt alles zum Stillstand, was in eine andere Richtung gehen könnte als die, die Frau B. „schon immer kennt.“

Was könnte diese Funktion sein? Vielleicht halten Sie einen Moment inne und überlegen, wie das, was Sie bisher gelesen haben, auf Sie wirkt. Haben Sie Phantasien dazu? Gibt es etwas, das Sie spüren, ein Gefühl, eine Körperwahrnehmung, sobald Sie sich auf diese kurze Szene einlassen?

Wenn Sie möchten, versuchen Sie zunächst, Ihre eigenen Ideen zu formulieren, bevor Sie sich meine Hypothese dazu anschauen. Diese finden Sie, wenn Sie auf den folgenden Balken klicken:

Meine (der Patientin gegenüber zunächst unausgesprochene) Hypothese ist, dass sie durch die fortgesetzte „Trauer“ die Verbindung zu ihrer verstorbenen Mutter halten kann, ohne sich von ihr verabschieden zu müssen.

Das verhindert jedoch, dass sie durch die Anerkennung des Verlusts im „Hier und Jetzt“ ihres eigenen Lebens ankommt, und somit aus der Vergangenheit in die Gegenwart gelangt. Ihre unbewusste Erwartung könnte – so meine Idee zum bestimmenden Gefühl dabei – geprägt von der Angst sein, dabei mit überwältigenden Gefühlen konfrontiert zu werden.

Es wirkt auf mich, als habe sie sich damit arrangiert. Und doch ist sie auf der Suche nach einer Veränderung, weil sie keine wirkliche Zufriedenheit spüren kann.

Dahinter versteckt ist womöglich eine Wut darüber, verlassen worden zu sein. Meine Patientin beschreibt ihre Vergangenheit wie ein „goldenes Zeitalter,“ während sie gleichzeitig wirklich unglücklich wirkt und in Not scheint.

Könnte ihre Angst somit auch der zerstörerischen Kraft ihrer eigenen, ihr unbewussten Wut gelten? Das zumindest ist mein bestimmendes Gefühl, das ich in meiner Gegenübertragung im Verlauf der Stunden spüre.

Ich kann meine Gefühle, die mich auf die Spur zu dieser Hypothese bringen, durch nach innen gerichtetes, achtsames Gewahrsein wahrnehmen. In der Psychoanalyse nennen wir das „gleichschwebende Aufmerksamkeit“.

Vielleicht könnte der Patientin die Entwicklung von Achtsamkeit helfen, ihre eigene Gefühlswelt zu erforschen und die beschriebenen Zusammenhänge zu erkennen?

Einleitung

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie arbeitet an den Wurzeln aktuell spürbarer, seelischer Belastungen und deren körperlichen Folgen. Dauerhafte Behandlungserfolge entstehen, wenn nicht nur die Symptome beseitigt, sondern die Ursachen bearbeitet werden.

Solche Ursachen wurzeln oft in unbewussten Mustern, die sich im Laufe der lebensgeschichtlichen Entwicklung gebildet haben. Sie führen zu einer verminderten psychischen Flexibilität, mit der wir auf aktuelle Herausforderungen reagieren.

Dadurch geraten viele Menschen immer wieder in dieselben Schwierigkeiten, scheitern an ihren tief verankerten Ansprüchen oder landen in Beziehungen, die immer gleichen Mustern folgen. Das geschieht im Hier und Jetzt in Form endloser Gedankenschleifen, festgefügter Erwartungen und alter Muster.

Der Erfolg der tiefenpsychologischen Bearbeitung liegt darin, diese alten Muster genau zu studieren, um ihre unbewusste Funktion zu erkennen. Das gelingt am besten, indem wir

  • ihre Auswirkungen im Hier und Jetzt wahrnehmen
  • ohne uns davon überschwemmen zu lassen
  • die zentralen Gefühle identifizieren, die sie bestimmen und
  • herausfinden, welche prägenden Gedanken sich aus ihnen entwickelt haben.

Eine der dabei hilfreichen Techniken wird im Achtsamkeitstraining erlernt:

Durch das Einüben der aufmerksamen Beobachtung dessen, was im Hier und Jetzt geschieht, lernen wir, den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung des Körpers, von Gefühlen und Empfindungen zu lenken.

Gedanken und Vorstellungen werden nicht abgestellt, sondern als Begleiter anerkannt, mit denen wir das, was wir wahrnehmen, bewerten und unsere Schlüsse daraus ziehen. Wir verzichten nur darauf, uns von diesen Gedanken bestimmen zu lassen, indem wir ihnen nicht folgen, sondern sie „ziehen lassen.“

Das zentrale Ziel dabei ist, loszulassen. Und zwar von den Bewertungen, die die Wahrnehmungen einordnen sollen. Nur so kann das Erleben den Ausgangspunkt der Erfahrung bilden, dass eine Angst, die spürbar wird, von selbst kommt und geht; dass eine bedrückte Stimmung sich wandelt.

  • Wie kann Achtsamkeit uns dabei helfen, unser Erleben gründlich zu erforschen und uns vertraut zu machen?
  • Welche Techniken sind damit gemeint, die uns dabei helfen, nicht zu immer gleichen Schlüssen und Bewertungen zu gelangen?
  • Wie tragen die zunehmende Vertrautheit mit unseren Wahrnehmungen und die Infragestellung unserer Bewertungen zur Heilung alter Wunden und zur Veränderung eingefahrener und krankmachender Muster bei?

Diese Fragen soll der vorliegende Beitrag beantworten. Dazu gliedert sich mein Gedankengang in folgende Schritte:

  1. Zunächst werde ich beschreiben, auf welchen geistigen Grundlagen der Achtsamkeit beruht. Danach schildere ich, wie sich Achtsamkeit in der Vergangenheitsbewältigung nutzen lässt, und wie sich die dazu erforderlichen Fähigkeiten zur Introspektion und Selbstreflexion entwickeln lassen.
  2. Daraus ergibt sich die zentrale Rolle der Aufgabe jeder Psychotherapie, Patient*innen darin zu unterstützen, belastende Erfahrungen als Teil ihrer Vergangenheit anzuerkennen. Dabei ist es notwendig, die mit den Vergangenheitserlebnissen verbundenen Gefühle von den die Gegenwart bestimmenden Vorstellungen und Erwartungen zu lösen. Wie das funktionieren kann, schildere ich anschließend.
  3. Wie Achtsamkeit in der tiefenpsychologischen Psychotherapie konkret entwickelt und genutzt werden kann, wie sich ein „Bewusstsein für unser Bewusstsein“ entwickeln lässt, beschreibe ich sowohl auf der Seite der Psychotherapeut*in als auch der Patient*innen.
  4. Was für Herausforderungen und Grenzen sich aus dieser Arbeit ergeben, und welche Ressourcen Sie verwenden können, wenn Sie sich eingehender mit diesen Fragen befassen möchten, bildet den Abschluss dieses Beitrags.

Doch jetzt zunächst noch einmal zurück zu meinem Fallbeispiel:

Fallbeispiel, Teil 2

Hier der weitere Gesprächsverlauf mit Frau B.:
Was sie jetzt wahrnimmt, ist ein stärker werdender „Spannnungskopfschmerz“, den sie als ständigen Begleiter im Alltag benennt. Das passt zu einer steigenden Anspannung, die ich während unseres Gespräch wahrnehme.

Ich bitte Frau B., mir zu beschreiben, wo sie den Ursprung der Spannung und ihres Schmerzes wahrnimmt. Bemerkenswerterweise lokalisiert sie diesen in ihrem Bauch, gefolgt von einem Gefühl, als schnüre es ihr den Hals zu. Sofort beginnt sie, sich „den Kopf zu zerbrechen“ darüber, dass sie ja nun deswegen hier sei, um über ihre Kindheit zu sprechen.

Als ich sie freundlich darauf hinweise, dass dieser Weg der Gefühle „vom Bauch über den Hals in den Kopf“ womöglich eine wichtige Entdeckung sein könnte, verändert sich die Atmosphäre im Gespräch. Die Anspannung sinkt spürbar. Es entsteht ein Wendepunkt.

An dieser Stelle zeigt sich deutlich, wie Frau B. unbewusst und als Reaktion auf ein emotionales Geschehen in ihre Gedanken- und Erklärungsschleife eingestiegen war. Um diesen Kreislauf zu verlassen, war es notwendig, dieses Schleifenmuster erst einmal zu erkennen und in seiner Funktion zu untersuchen.

In diesem Fall zeigte sich eine „neurotische Abwehr“ in Form eines zwanghaften Musters, bestehend aus Rationalisierung und Intellektualisierung, das einem Grübelzwang vergleichbar ist.

Achtsamkeit hat hier geholfen, eine Körperwahrnehmung zu entdecken, die dieses Muster zu unterbrechen.

Ein genaueres Studium der Abläufe und ihrer Funktionen kann nur in einer tragfähigen therapeutischen Beziehung zu Veränderungen in unseren Patient*innen führen. Die Beziehung bildet die wichtigste Grundlage für eine Psychotherapie. Wenn diese Voraussetzung entstanden ist, kann Achtsamkeit in der tiefenpsychologischen Psychotherapie dabei helfen, leidvolle Erfahrungen zu identifizieren und zu tolerieren, damit neue Erfahrungen entstehen können.

Auf diese Anerkennung des Geschehenen gehe ich in einem späteren Abschnitt noch einmal ein.

Doch jetzt erst einmal zu den Grundlagen der Achtsamkeit, die zu einem besseren Verständnis der Achtsamkeit als geistigem Phänomen beitragen können.

Grundlagen der Achtsamkeit

Heutige Achtsamkeitstechniken führen wir zurück auf die alte Tradition des buddhistischen Bewusstseinstrainings. Was in unserer historischen oder kulturellen Vorstellung des Buddhismus vom Bild meditierender Mönchen geprägt ist und damit nur fernab der alltäglichen Wirklichkeit möglich erscheint, lässt sich heute gut in den Alltag integrieren. Auch unser therapeutischer Alltag profitiert davon.

Je besser es uns gelingt, unsere Wahrnehmungen getrennt von unseren inneren Erwartungen und den sie prägenden Vorstellungen zu betrachten, desto weniger Macht haben die sonst so automatisiert ablaufenden Verknüpfungen über unser Denken und Handeln. Gefühle tauchen auf und vergehen wieder. Sie wechseln ihre Intensität, werden von anderen Gefühlen abgelöst, lassen sich mit Körperwahrnehmungen verbinden und werden so „greifbarer“, anstatt uns nur zu ergreifen.

Achtsamkeit ist nichts anderes als Aufmerksamkeit. Eine Haltung des Gewahrseins voller Respekt und frei von Wertungen.

Jack Kornfield

Dass Achtsamkeit in der tiefenpsychologischen Psychotherapie, aber auch in Verbindung mit anderen Therapieverfahren die geistige Prozesse verändern kann, die der Bildung pathogener Muster zugrunde liegen, bestätigen wissenschaftliche Studien.

So wurde diese Wirksamkeit zum Beispiel am Verfahren der Mindfulness Based Stress Reduction (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, kurz MBSR), einem eher verhaltenstherapeutischen Vorgehen, sehr gut erforscht. Ihr Einsatz in Kliniken, aber auch begleitend zur ambulanten Psychotherapie gilt als bewährte Möglichkeit, Achtsamkeit zu erlernen.

Wer Achtsamkeit praktiziert, dem ist die Konzentration auf den Atem bald vertraut. Durch das Fokussieren auf das selbständige Kommen und Gehen der Atmung entsteht mit der Zeit eine ausgeglichenere Haltung in Situationen, in denen beängstigende Erfahrungen alte, dysfunktionale Mechanismen freisetzen.

Durch diese neue Haltung ist es leichter möglich, affektive Spannungen besser zu regulieren und besonnener zu reagieren, ohne auf alte, unbewusste und automatisch ablaufende Muster zurückgreifen zu müssen. Diese neue Flexibilität hilft dabei, die überkommenen Muster wirklich Vergangenheit sein zu lassen.

Achtsamkeit und Vergangenheitsbewältigung

Manchmal äußern meine Patient*innen – wie Frau B. im Fallbeispiel – bereits im Erstgespräch ihren Wunsch, ihre Kindheit aufarbeiten zu wollen, um nicht länger an einer Depression oder unter Ängsten leiden zu müssen. Doch was genau meinen sie damit?

Mit der Vorstellung der Aufarbeitung ist die Hoffnung verbunden, den prägenden, oft unbewussten Erfahrungen nicht mehr dadurch ausgeliefert zu sein, dass sie in Form von wiederkehrenden Mustern unser Erleben in der Gegenwart dominieren.

Erinnern heißt Verändern.
Ernst Bloch, „Das Prinzip Hoffnung“

Wenn wir in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie vom Bearbeiten sprechen, meinen wir eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, bei der unsere Patient*innen sich mit ihren Erfahrungen bewusst erneut befassen. Wir unterstützen sie darin, diese aus der zeitlichen Distanz der Gegenwart zu betrachten und verschiedene Blickwinkel darauf einzunehmen, die neue Aspekte daran erkennen lassen. Dadurch entsteht ein differenzierteres Bild.

Diese alten Erfahrungen kehren zum Beispiel in Alltagskonflikten wieder, die wir uns gemeinsam anschauen. Mit dieser Perspektive auf die Alltagserlebnisse können die Wirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart untersucht und nötige Veränderungen erkannt werden.

Über die dabei auftretenden Wahrnehmungen und Gefühle können wir mit unseren Patient*innen gemeinsam nachdenken. Die dafür notwendigen Fähigkeiten der Introspektion (also des „Blicks nach Innen“) und der Selbstreflexion (des Nachdenkens über sich selbst) ermöglichen es unseren Patient*innen mit der Zeit, die Erfahrungen als Teil eines Selbstkonzepts, also eines erstarrten Bildes von uns selbst, zu verstehen.

Was sind die Voraussetzungen für Introspektion und Selbstreflexion?

Damit wir uns diese Aspekte des Erlebens bewusst machen können, benötigen wir eine ausreichende Toleranz gegenüber damit einher gehenden belastenden Gefühlen. Wir müssen uns dem Umgang mit ihnen gewachsen fühlen, damit diese kritische Überprüfung und die Infragestellung alter Selbstkonzepte überhaupt möglich ist. Das ist kein einmaliger, sondern ein sich stetig wiederholender Prozess.

Vertrautes vermittelt Sicherheit, auch wenn es schadet und behindert.

Schädigende Sicherheiten aufzugeben braucht Zeit und Aufmerksamkeit.

Sobald jedoch Gefühle der Unsicherheit und der Angst tolerierbar werden und nicht mehr unser Denken und Verhalten bestimmen, kann das, was aus der Vergangenheit prägend auf uns lastet, seinen Einfluss verlieren.

Paul Gilbert und Choden sprechen in ihrem Buch „Achtsames Mitgefühl“, von „Methoden der introspektiven und reflexiven Psychologie, welche von buddhistischen Gelehrten und Schülern seit Jahrtausenden studiert und angewandt wurden, und aus denen eine Ethik hervorging, die auf mitfühlender Erkenntnis beruht.“ (ebd., S.32)

Sie beschreiben so zwei wesentliche Gemeinsamkeiten der tiefenpsychologischen und der buddhistischen Psychologie. Etwas mit ungerichteter, weit offener Aufmerksamkeit wahrzunehmen, ermöglicht uns, die Qualität des Wahrgenommenen zu studieren und unser eigenes Verhältnis dazu anders zu erleben als zuvor.

Wir fühlen uns nicht mehr so sehr von der Vergangenheit bestimmt und entwickeln ein Gespür für die Vergänglichkeit der Geschehnisse, die uns sonst so sehr gefesselt und eingenommen haben. Das erleichtert das Loslassen.

Die belastenden Erfahrungen in der Vergangenheit als Teil unserer Geschichte anerkennen

Loslassen – das ist ein Bild, das zugleich verlockend und beängstigend sein kann. Welches von beidem es in uns auslöst, hängt sehr davon ab, mit was für Assoziationen wir es verknüpfen.
Wir können uns erleichtert fühlen wenn es uns gelingt, Erfahrungen aus der Vergangenheit als Teil unserer Geschichte anzuerkennen und damit loszulassen. Damit können wir uns „präsent im Hier und Jetzt“ fühlen, statt durch Vergangenes bestimmt und festgehalten zu werden.

Nicht alle alten Muster lassen sich dadurch sofort auflösen. Es ist jedoch in jedem Fall wichtig, das Geschehene als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen, damit die Verhaltensweisen, Beziehungen und Selbstbilder der Gegenwart sich schrittweise von den Erfahrungen aus der Vergangenheit unterscheiden lassen, und unsere wache Wahrnehmung uns mehr Flexibilität und Gestaltungsspielräume ermöglicht.

Darauf zielt Achtsamkeit ab. Wir könnten sie auch als „Sein im gegenwärtigen Moment“ bezeichnen – mit der Ergänzung, dass wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was wir wahrnehmen und fühlen, statt darauf, was wir denken.

Wie können wir Achtsamkeit in der tiefenpsychologischen Psychotherapie praktizieren? Wie können wir ein „Bewusstsein für unser Bewusstsein“ entwickeln? Für die Beantwortung dieser Frage hilft es, sich bewusst zu machen, wie unser Geist funktioniert.

Wie verknüpft unser Gehirn Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken?

Wahrnehmen, Fühlen (im Sinne von Gefühlen) und Denken sind aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte Eigenschaften des Geistes, zum Teil auch des Körpers.

So gibt es einerseits das Wahrnehmungsorgan und andererseits den vom Gehirn verarbeiteten Sinnesreiz.

Fühlen ist ein geistiger Prozess, der auf der Aktivität verschiedener Hirnareale basiert. Denken ist ein ebenso komplexer, zusammengesetzter Vorgang. Alles ist dabei mehr oder weniger von einem Innen und einem Außen geprägt, und sei es, dass wir das Wahrnehmen der Aktivität unseres Herzschlags mit dem „Außen“ unseres Organs, also der physischen Präsenz unseres Körpers verbinden, das von den Sinneszellen, die für die sogenannte „propriozeptive Wahrnehmung“ verantwortlich sind, empfunden werden kann.

Wir könnten auch sagen, dass es sich im weitesten Sinne um ein Beobachten handelt – auch darin ist das „achten“ enthalten, das etymologisch die Wurzel der Achtsamkeit bildet.

Irgendwann verschwindet jedoch diese Unterscheidung in Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Sinnesorgan und Sinnesreiz, Körper und Geist aus unserem Bewusstsein. Wir müssen es uns wieder bewusst machen, um damit arbeiten zu können.

Dieses Bewusstsein hilft uns, um den Charakter dessen, was wir denken, fühlen und wahrnehmen, besser verstehen zu können.

Warum ist es hilfreich, das zu wissen?

Wir können uns so vergegenwärtigen, dass alles, was uns aus unserer Vergangenheit heute noch beschäftigt, in irgendeiner Weise der Ausdruck des gegenwärtigen Prozesses des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens ist, dessen eigentliche Quelle jedoch längst weg ist – eben Vergangenheit. Damit wird das Wahrgenommene, Gefühlte und Gedachte im Grunde objekt- bzw. gegenstandslos. Wenn Sinnesorgane etwas ohne Sinnesreiz wahrnehmen, sprechen wir auch von einer Halluzination.

Je bewusster wir uns das machen können, desto eindrücklicher können die Schlüsse sein, die wir daraus ziehen. Das ist oft am beeindruckendsten am Beispiel unserer Gedanken.

Unsere Vorstellungskraft ist so ausgeprägt, dass unsere Phantasie in der Lage ist, die Unterschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen Innen und Außen, zwischen Körper und Geist vollständig verschwimmen zu lassen. Sobald wir uns dessen bewusst werden – und dazu verhilft uns auch, dass wir uns wieder bewusst machen, wie unser Geist funktioniert – können wir beginnen, erneut klarer zu unterscheiden.

Das wirkt sich auch auf unser Selbstempfinden aus. Wir entdecken darin die Kraft unserer Intentionalität, wir gewinnen unser Urteilsvermögen zurück und beginnen Veränderungen zu bewirken, alleine dadurch, dass wir etwas für möglich halten, das uns zuvor nicht einmal bewusst war.

Und damit können wir psychotherapeutisch arbeiten. Dabei hilft uns die Achtsamkeitpraxis sowohl für uns selbst als mit unseren Patient*innen.

Die Achtsamkeit der Psychotherapeut*in

Wir können damit beginnen, achtsam wahrzunehmen, in welcher Verfassung wir sind, bevor wir mit unseren Patient*innen zusammentreffen, und was diese in uns auslösen, während wir mit ihnen zusammen sind.

  • Was verändert sich, wenn wir uns darin üben, zunächst nicht daran zu denken, was wir über sie wissen, was sie in der vergangenen Woche gesagt haben, wie sie in unserer Erinnerung noch aus der letzten Stunde präsent sind?
  • Können wir dadurch aufmerksamer zuhören, was sie uns im Hier und Jetzt „wirklich“ mitteilen?

Diese Art der Aufmerksamkeit kann dabei helfen, präsent zu sein. Wir lernen so, unsere eigenen Reaktionen im Denken, Fühlen und Wahrnehmen als unseren Beitrag zum Geschehen in der therapeutischen Situation zu erkennen und deren Auswirkungen auf die Wahrnehmung der emotionalen Signale unserer Patient*innen zu registrieren.

Dieser Verarbeitungsprozess bildet die Grundlage dessen, was wir mit Übertragung und Gegenübertragung in der Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse konzeptualisieren. Darin drücken sich unbewusste, vorgefertigte Erwartungen aus, dass neue Beziehungen eben wie alte Beziehungen funktionieren.

Wie können wir alte Beziehungsmuster aus unserer Warte als Psychotherapeut*in erkennen?

In der Psychoanalyse sprechen wir von der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“, mit der wir den Einfällen unserer Patient*innen begegnen. Diese innere Haltung soll es uns erleichtern genau wahrzunehmen, was sich in diesen Einfällen an unbewussten Vorgängen äußert. Das erfolgt erst einmal ohne Bewertung.

Damit weist diese Haltung große Gemeinsamkeiten mit der achtsamen Haltung auf. Nach und nach beginnen wir dann, mit Hilfe eigener Einfälle und Erinnerungen Zusammenhänge aufzuspüren, die wir im Gespräch mit unseren Patient*innen genauer rekonstruieren. Dadurch entsteht ein Bild davon, was Teil des unbewussten Geschehens bei unseren Patient*innen ist, und was eher als Ausdruck unserer eigenen emotionalen Reaktion verständlich wird.

Durch diesen gemeinsamen Erkenntnisprozess können wir vermeiden, durch unser eigenes unbewusstes Reagieren die durch die Übertragung ausgelösten, unbewussten Erwartungen unserer Patient*innen zu bestätigen.

Durch Achtsamkeit lernen wir, unsere Energie in die Erfahrung des Beobachtens und klaren Sehens zu stecken, anstatt automatisch auf etwas in gewohnter Weise zu reagieren.

Paul R. Fulton (2023) (eigene Übersetzung)

Es gelingt uns dadurch besser, wohl überlegt zu antworten und zum Beispiel unser Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, wenn wir spüren, dass wir (womöglich sogar mehr als unser*e Patient*in) bewegt sind, etwa traurig oder wütend darüber, was ihm oder ihr widerfahren ist.

Wie lerne ich diese Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung im Hier und Jetzt?

Psychotherapeut*innen, die mit Achtsamkeitstechiken arbeiten, haben diese in verschiedenen Achtsamkeitskursen oder -trainings erlernt. Das häufigste Verfahren ist dabei MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), das nach einem einheitlichen, schematischen Vorgehen in festgelegten Schritten abläuft.

Es gibt jedoch auch andere Verfahren, die ihren Anwender*innen einen weniger schematischen Ablauf vorgeben, damit mehr individuelle Bedürfnisse und Vorlieben berücksichtigen, jedoch manchmal auch ein größeres Maß an Experimentierfreude und der Bereitschaft voraussetzen, eigene Regeln und Abläufe zu entwickeln.

Allen Verfahren ist gemeinsam, dass dabei Meditation eingesetzt wird. Sie erleichtert das Erlernen in einer Situation, die weniger komplex ist als unsere Alltagswirklichkeit. Das hilft uns, unsere Aufmerksamkeit zu lenken und dadurch bewusster auf das zu achten, was wir wahrnehmen.

Jede Selbsterfahrung zählt

Meditation ist jedoch nur eine Form der Selbsterfahrung, die die Achtsamkeit schult. In mehr oder weniger direkter Form gelingt das auch durch Formen der Selbsterfahrung, die darauf fokussieren, was in unserem Körper spürbar wird und in unserem Geist funkt. Auch in einer eingehenden Lehranalyse kann das möglich sein, wird jedoch in den seltensten Fällen aktiv angeleitet werden.

Achtsamkeit auf Seiten der Patient*innen

Viele Menschen, die zu uns kommen, müssen erst lernen, achtsam zu sein auf das, was sie fühlen und wahrnehmen, wie sie denken und handeln, und darüber miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie müssen die dazu notwendige Position des sogenannten „Beobachter*in-Ich’s“ erst entwickeln.

Sobald es ihnen mit unserer Hilfe jedoch gelingt, sich selbst dabei zu beobachten, wie sie – oft eben zuvor unbewusst – einer Vorstellung folgend, in einen Strudel aus angstvollen Gefühlen geraten, wird es leichter möglich, diese Angst zuzulassen und bewusst wahrzunehmen.

Dabei kann es Schritt für Schritt gelingen, das Gefühl von begleitenden Gedanken zu unterscheiden. So lässt sich dabei zum Beispiel feststellen, dass das Gefühl in den allermeisten Fällen bereits abzuklingen beginnt, bevor die Gedanken daran zur Ruhe kommen.

Das ist oft ein „Aha“-Erlebnis, welches zu erstaunlichen Veränderungen in der Selbstwahrnehmung führt. Im Laufe der Zeit entsteht daraus ein Selbstbewusstsein, das unsere Patient*innen darin unterstützt, eigenständiger über sich und ihre Erlebnisse und Erfahrungen nachzudenken und zu berichten.

Fallbeispiel – Teil 3

Frau B. zeigt sich zum Ende unseres Gesprächs neugierig darauf, was Achtsamkeit bewirken könnte. Etwas dabei scheint sie erreicht zu haben. Auch wenn sie viel Arbeit vor sich sieht, interessiert sie sich dafür, wie ein solcher Perspektivwechsel möglich werden könnte, den sie in der Stunde erlebt – von der Wahrnehmung ihres Körpers zur Wahrnehmung der Gefühle zur Gedankenschleife, die sie wieder in alte Muster zurückgeführt hatte.

Ich empfehle ihr, sich zunächst darauf zu konzentrieren, diese achtsame Wahrnehmung zu üben, anstatt die von ihr beabsichtigte „Verarbeitung der Kindheit“ zu beginnen. Sie wirkt irritiert davon, dass ihr das ein Psychoanalytiker rät. „Ich dachte, Psychoanalyse ist genau das. So hatte ich die Empfehlung, die mir gegeben wurde verstanden.“

Erst als ich ihr von meiner Vermutung erzähle, dass es sich bei ihrer Beschäftigung mit der Vergangenheit um keine Bewältigung handelt, sondern um ein „Fest(ge)halten (werden)“, und das anhand der Schleifen und ihrer Kopfschmerzen beschreibe, kann sie meine Empfehlung mit der Erfahrung, die sie in diesem Gespräch gemacht hat, verbinden.

Herausforderungen und Grenzen

Um sich in der Wahrnehmung dessen, was im Hier und Jetzt geschieht, sicherer zu werden, ist eine eigenständige, regelmäßige Praxis auch außerhalb der therapeutischen Stunden hilfreich. Das kann eine formale Meditationspraxis sein, aber auch eine Praxis, die den Alltag zum Übungsfeld der Achtsamkeit macht.

Regelmäßig Achtsamkeit praktizieren

Dabei lernen wir auch als Therapeut*innen unsere eigenen Grenzen besser kennen. Es ist mitunter nicht einfach, die eigene Aufmerksamkeit so zu fokussieren, dass wir sowohl die inneren Bewegungen unserer eigenen Gefühle wahrnehmen als auch diese Wahrnehmungen mit den Mitteilungen unserer Patient*innen (verbal und nonverbal) verbinden.

Es bedarf der eingehenden Selbsterfahrung, um sich geübt darin zu fühlen. Das gilt insbesondere für diejenigen von uns, die über eine stärkere Neigung zu Selbstkritik und -zweifeln verfügen, was bei sogenannten prosozialen Menschen (zu denen auch viele der Menschen in helfenden Berufen gehören) häufiger der Fall ist.

Achtsamkeit und Selbstkritik

Hier ist es notwendig, die Achtsamkeitspraxis durch die Praxis des Selbstmitgefühls zu ergänzen, damit wir eine Akzeptanz für die eigenen Gefühle und Stimmungen entwickeln können.

Diese Form der erweiterten Achtsamkeit empfiehlt sich auch für Patient*innen, die nicht selten mit einer starken Neigung zu Selbstkritik hadern.

Tara Brach hat für diese besondere Situation das sogenannte R.A.I.N.-Modell entwickelt, ein einfaches Vorgehen, das dazu geeignet ist, sich aufmerksam diesen selbstkritischen inneren Anteilen zuzuwenden. Sie schreibt darüber in ihrem Buch „Radical Acceptance“ (deutscher Titel: Mit dem Herzen eines Buddha).

Achtsamkeit in der Arbeit mit traumatisierten Patient*innen

Viele aktuelle Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit der Behandlung traumatischer Erfahrungen. Dabei zeigt sich, dass gerade dieser Arbeitsbereich für eine Form der Vergangenheitsbewältigung besonders geeignet erscheint, bei der ein sicherer Bezug zur Wahrnehmung der aktuellen Wirklichkeit sowohl im Inneren wie im Außen erst hergestellt und gehalten werden muss.

In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie arbeiten wir mit verschiedenen Techniken, die unseren Patient*innen dabei helfen sollen, sich sicher und ausreichend distanziert von den auftauchenden, zum Teil blitzartig einschießenden sogenannten Intrusionen früherer Erlebnisse zu distanzieren.

Patient*innen, die sich ihrer emotionalen Bewegungen bewusster sind, gelingt es oft besser, sich der Auseinandersetzung mit solchen Erfahrungen zu stellen. Das erfordert jedoch einen besonders behutsamen Umgang mit den hierdurch zugänglichen Erfahrungen. Auch in diesem Fall stellt sich oft eine intensive Form der Selbstkritik ein, die in Verbindung mit Schuldgefühlen zu stehen scheint, die früher dem Selbstschutz dienten.

Diese Konstellation ließe sich so formulieren: „Wenn ich Schuld bin, dann muss ich mich nur richtig verhalten, dann passiert mir nichts.“ Die damit einhergehende Vorstellung, wieder handlungsfähig zu sein, soll die ansonsten oft unerträglichen Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein überwinden.

Zusätzliche Ressourcen

Wenn Sie sich eingehender für das Erlernen der MBSR-Technik interessieren, bietet der MBSR-Verband einen guten Überblick über die aktuellen, sowohl in Präsenz als auch online stattfindenden Kurse an. Hier können Sie sich auch über die Voraussetzungen zur Ausbildung im MBSR-Training informieren und entsprechende Kursangebote finden.

Sehr gute Informationen zum Thema Achtsamkeit und Psychotherapie bietet auch das Buch „Psychotherapie und buddhistisches Geistestraining“, herausgegeben von Ulrike Anderssen-Reuster, Petra Meibert und Sabine Meck, das ich in meiner Bücher-Liste kurz rezensiert habe und empfehle.

Ich meditiere selbst mit der kostenlosen, nur über Spenden finanzierten „Healthy Minds“-App des Center for Healthy Minds der Universität Wisconsin-Madison. Diese App beinhaltet ein eingehendes, 74 lehrreiche Lektionen und 122 geleitete Meditationen umfassendes Aufmerksamkeits- und Bewusstseinstraining und viele weitere, frei wählbare Mediationen sowie „The Dalai Lama’s Guid to Happiness“.

Die App wurde vor kurzem von Healthline-Media, der größten Gesundheits-Informationsplattform in den USA, zur besten Meditations-App im „2024 Awards for Women’s Wellness“ ausgezeichnet. Aktuell meditieren ca. 525.000 Nutzer weltweit in 216 Ländern damit.

Mit der Nutzung dieser App nehmen Sie zudem an einem großen, internationalen Forschungsprojekt zur Erfahrung mit Achtsamkeitstechniken teil. Ich kann sie Ihnen wärmstens empfehlen.

Quellenverzeichnis

Andressen-Reuster, U. et al. (2015) Psychotherapie und buddhistisches Geistestraining. 1. Nachdruck der 1. Auflage (2013), Schattauer-Verlag, Stuttgart.

Brach, T. (2005) Mit dem Herzen eines Buddha. Knaur Verlag, München

Gilbert, P. et al. (2020) Achtsames Mitgefühl. Arbor-Verlag, Freiburg

Fulton, P. R., Mindfulness Practice as Advanced Training for the Clinician. In: Loizzo, J. et al. (2023) Advances in Contemplative Psychotherapy. 2. Edition. Routledge, New York.

Michalak, J. et al. (2012) Achtsamkeitsbasierte Therapie. In: Psychiatrie und Psychotherapie up2date 6/2012, S. 245-258. Thieme-Verlag, Stuttgart.

Reddemann, L. (2016) Mitgefühl, Trauma und Achtsamkeit in psychodynamischen Therapien. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Index