Was mir wichtig ist.
Viharati – vor Ort sein
Alles ändert sich, wenn ich präsent bin.
Von Anfang an entsteht eine intensivere Atmosphäre. Ich bin zugewandt und offen, wirklich anwesend im Gespräch mit meinen Patient*innen oder Kolleg*innen.
Ich höre zu. Frage nach. Denke mit.
Fokussiert und aufmerksam.
Achtsam nehme ich in mir und um mich herum wahr, was geschieht. Auch wenn keine*r spricht, wenn nichts passiert, spüre ich und nehme wahr. Es ist Ausdruck einer Selbstzurücknahme, die den Anderen in den Mittelpunkt meiner Wahrnehmung rückt, auch wenn ich mich mit meinen Reaktionen dabei mit einbeziehe.
Das gelingt nicht immer so. Dann kann ich meine Aufmerksamkeit nicht wach halten. Meine Wahrnehmung schweift ab, ich lasse mich ablenken oder hänge meinen Gedanken nach.
Mit der Zeit lerne ich, auch das wahrzunehmen und nicht zu unterbinden. „An der nächsten Auffahrt“ gelange ich wieder in den Kontakt mit mir selbst und meinem Gegenüber.
Vor Ort sein. Präsent sein. Im Hier und Jetzt, gegenwärtig.
Danach suche ich als Arzt, Psychotherapeut und Supervisor.
Aber auch als Mitmensch: mehr und mehr in der Gegenwart zu sein, statt über die Vergangenheit nachzugrübeln oder die Zukunft zu planen.
Ich nenne das „Viharati“.
Viharati ist ein Verb, ein Tu-Wort im Sanskrit.
Viharati meint eine Haltung, die nicht „ein für allemal“ existiert, sondern immer wieder neu eingenommen werden will.
Es bedeutet übersetzt: an einem bestimmten Ort verweilen, leben, sich aufhalten, Zeit verbringen – aber auch: aushalten, verharren. Und: ein Leben führen.
Es steht so auch für „Gemeinschaft“. Für den Ort, die Präsenz, die Gegenwart des anderen.
Lernen durch Erfahrung
Ich betrachte diese Seiten als einen solchen Ort, der einlädt zum Verweilen.
Meditationen, oder „tiefes Schauen“, wie der Zen-Meister Thich Nhat Hanh es übersetzt, sind für mich sehr wertvolle Übungen, um mein Bewusstsein zu schulen.
Ich verstehe Viharati als meine Einladung, vor Ort zu sein an einem gemeinsamen Lernort, der geprägt ist vom Anfänger:innen-Geist, den ich im Zen-Buddhismus kennenlernte.
Kontemplatives Lernen bedient sich dabei eines anderen Denkmodus‘ als dem des Problemlösens. Letzteres ist gut geeignet für krisenhafte Zuspitzungen oder Notwendigkeiten im Sinne des „Wendens einer Not.“ Kontemplation hingegen ist anders. Es lässt achtsames Engagement entstehen.
Wenn’s schnell gehen muss, ist die kürzeste Entfernung zwischen A und B meist der beste Weg.
In fast allen anderen Fällen punktet nicht der linear-kausale Zusammenhang des Notwendigen, sondern die Qualität des achtsamen Engagements. Das folgt dem Prinzip der Emergenz. Da entsteht etwas Bedeutsames aus definierten Vorbedingungen, ohne dass es sich vorhersagen ließe, aber in einer folgerichtigen Art und Weise.
So arbeite ich mit meinen Patient*innen und Analysand*innen als Psychoanalytiker, wenn ich in den Zustand gleichschwebender Aufmerksamkeit gelange. Auch das bezeichnet eine Haltung, die von der Präsenz geprägt ist, dem vor Ort sein.
Meine Bemühungen sind oft nicht von einem angestrebten Ergebnis definiert, sondern der Ausdruck eines offenen Prozesses. Das erzeugt Flexibilität und schafft zugleich Unsicherheit, mit der ich umgehen lernen muss.
Die Voraussetzung dafür muss immer wieder hergestellt, neu geschaffen werden.
Achtsamkeit und gleichschwebende Aufmerksamkeit fokussieren beide auf die Wahrnehmung „von dem, was wirklich ist.“
Darum ist es mir so wichtig, günstige Voraussetzungen dafür zu schaffen, um präsent zu sein im Augenblick.
Buddhistische Praxis und Psychoanalyse
Wenn ich hier über Themen wie das Zuhören, die sogenannte negative Fähigkeit oder die Haltung des Nicht-Wissens nachdenke, dann weil mich diese Stichworte seit dem Beginn meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker vor 17 Jahren immer wieder beschäftigen. Sie beschreiben etwas, das einen zentralen Aspekt meiner Haltung darstellt.
Mit meiner zunehmenden Neugier für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Psychoanalyse und buddhistischer Psychologie sowie einer regelmäßigen meditativen Praxis entstehen immer neue Fragen, auf die ich Antworten im Gespräch, in der Meditation und im Literaturstudium suche.
Wie lassen sich Achtsamkeitstechniken mit der Arbeit eines Tiefenpsychologen oder Psychoanalytikers verbinden?
Welchen Gewinn erbringt das Konzept des Nicht-Selbst für die narzisstischen Störungen meiner Patient*innen, die immer wieder um ihr eigenes, geschwächtes Selbst kreisen, statt sich für die Begegnung mit anderen öffnen zu können?
Ich schreibe mit wenigen Ausnahmen täglich ca. eine Stunde – bewusst unproduktiv, eher meditativ, sprunghaft und assoziativ. Kurz nach dem Aufstehen, noch nahe dem Traumbewusstsein.
Damit bilde ich die „Kette für die Schussfäden“ des Tages. Oft kehre ich in Gedanken mehrmals am Tag zu diesen Morgenseiten zurück und notiere mir Verbindungen zwischen den Themen meiner Behandlungsstunden und Supervisionen sowie meinen eher assoziativen Gedanken am Morgen.
Manche Tage sind dann geprägt von der Recherche nach theoretischen Hintergründen, die meine Hypothesen zu konkreten Behandlungsfragen untermauern oder in Frage stellen können.
Im Austausch mit Kolleg*innen oder durch die Lektüre von Fachliteratur entwickeln sich neue Zusammenhänge und Ideen.
Oder ich meditiere unbewusst über ein Motiv, das mir nicht aus dem Kopf gehen will, bis sich neue Fäden bilden, die einschießen und sich dann verknüpfen lassen mit der Webarbeit meines Arbeitstages.
Wahrnehmen und Spüren
Meine Grundausbildung in psychosomatischer Medizin während meines Universitätsstudiums genoss ich u.a. in der Gesprächen in der Bibliothek des psychosomatischen Lehrstuhls der Universität zu Köln. Hier lernte ich von dem mittlerweile verstorbenen Professor Rolf Köhle und seinen Mitarbeiter*innen zentrale Zusammenhänge von Leib und Seele in der Entstehung von Gesundheit und Krankheit kennen.
Prof. Köhle schrieb zusammen mit Prof. Thure von Uexküll ein Lehrbuch zur psychosozialen Kompetenz in der Primärversorgung durch Hausärzt*innen und zum Paradigmenwechsel in der Humanmedizin nach dem biopsychosozialen Modell.
Heute lässt sich dieses neue Paradigma der Psychosomatik nicht mehr wegdenken, aber es ist immer noch nicht mehr als eine Teildisziplin in der Medizin, statt – wie damals erhofft – das Leitmodell der Humanmedizin geworden.
Im Kern steht dahinter das genaue Wahrnehmen und Spüren dessen, was Teil oder sogar Kern einer leidvollen Erfahrung ist. Das setzt eine gute Beziehung voraus zwischen Patient*in und Ärzt*in. Darum ist Medizin aus Sicht dieses Paradigmas immer Beziehungsmedizin.
Dahinter steht noch das salutogenetische Konzept, wonach es nicht um die Beseitigung von Krankheit allein geht, sondern darum, Gesundheit zu ermöglichen, gute Voraussetzungen für ein gesundes Leben zu schaffen und Patient*innen dabei zu helfen, sich selbst zu helfen.
Vom neurotischen Elend zum normalen, menschlichen Leid
An dieser Schnittstelle bewege ich mich seit meiner intensiven Auseinandersetzung mit der buddhistischen Psychologie immer häufiger.
Mark Epstein, ein amerikanischer Psychoanalytiker und Buddhist sagte kürzlich in einem Interview sinngemäß, der Unterschied zwischen Psychotherapie und buddhistischem Geistestraining sei, dass – wie Sigmund Freud es einmal ausgedrückt habe – Psychotherapie dem Menschen vom neurotischen Elend zum ganz normalen menschlichen Leid verhelfen könne.
Letzteres sei dann der Ansatzpunkt der buddhistischen Psychologie, bei der es um die Verwirklichung von Zufriedenheit und Glück gehe, und das im Anerkennen des Leids.
Dahinter steht ein Verständnis von Gesundheit, das schmerzhafte und leidvolle Erfahrungen nicht negiert oder durch deren Beseitigung definiert wird, sondern diese in ein tieferes Verständnis des Lebens integriert.
Das ist ein ganz altes Konzept, das in der buddhistischen Wissenschaft schon seit 2500 Jahren gelehrt wird.
Für eine gesündere Welt
In der Weltmedizin (Grönemeyer 2018) finden sich viele Stichworte dieser alten Ganzheit der Medizin wieder, die auch in meinem Kopf immer noch präsent sind, auch wenn ich seit 2008 nicht mehr aktiv allgemeinärztlich tätig bin.
Die Wurzeln der verschiedenen traditionellen Heilmethoden ziehen ihre Kraft oft aus spirituellen Quellen. Dabei spielt das Gespräch, der direkte Kontakt mit dem Körper der Patient*innen und das Wahrnehmen mit allen Sinnen eine ganz zentrale Rolle sowohl in der Diagnostik als auch im therapeutischen Prozess.
Die dualistische Betrachtungsweise hat viel zur Perfektionierung moderner Heilmethoden beigetragen, aber auch zur Entfremdung in der Medizin beigetragen.
„Viharati“ steht für mich hierbei auch für eine Form der Präsenz, die sich auf die körperlich-seelischen Zusammenhänge besinnt und die Gegenwart auch als Interdependenz versteht mit den Ökosystemen und Lebenszusammenhängen der Welt, in der wir leben.
Vor Ort sein als aktive Präsenz und engagiertes Handeln
Soziale Gerechtigkeit ist heilsam. Soziale Ungerechtigkeit macht krank. Zusammensein und Gemeinsinn schaffen die Voraussetzungen für die Bewältigung persönlicher, aber auch gesellschaftlicher und globaler Krisen.
Eine Wirtschaftsordnung, die auf der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen gründet, zerstört die Diversität der menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen.
Damit verlieren wir unser zentrales Potential des Zusammenlebens und zerstören die Grundlagen des Überlebens der Menschheit und der Natur, mit der wir untrennbar verbunden sind.
Strukturelle Gewalt durch sexistische, rassistische oder ableistische Machtsysteme erleichtert individuelle Gewalt, bereitet den Boden für die Rechtfertigung des „Leidens von Menschen unter Menschen“.
Für mich bedeutet meine Arbeit als Psychoanalytiker auch aktive Zeugenschaft für Menschen, die unter der Gewaltausübung und Bemächtigung durch andere leiden, sei es struktureller oder individueller Art.