Präsent sein als Psychotherapeut*in.
Aus der Achtsamkeits-Praxis eines Psychoanalytikers
Ein Wesensmerkmal psychoanalytischer Arbeit ist die "gleichschwebende Aufmerksamkeit." Sie bezeichnet eine Präsenz, ein offenes Zuhören und Spüren, ohne etwas durch Merken und Urteilen auszuwählen.
Doch wie lässt sich diese Haltung eigentlich ganz praktisch erlernen? Dazu habe ich erstaunlich wenig in der psychoanalytischen Literatur gefunden.
Auf der Suche nach Antworten auf meine Frage habe ich eine Reise in das buddhistische Bewusstseinstraining begonnen. Von meinen Eindrücken auf dieser Reise und meinen Souvenirs, die meine Achtsamkeits-Praxis in meine psychotherapeutische Praxis eingebracht hat, handeln meine Beiträge.
Seit einiger Zeit sammele ich neben meiner psychoanalytischen Praxis Erfahrungen durch ein regelmäßiges Bewusstseinstraining. Ich meditiere und schreibe täglich.
Während meiner Meditationspraxis erforsche ich, was es heißt, wirklich präsent zu sein. Bei dieser Art der Meditation steht das Verweilen im gegenwärtigen Moment im Mittelpunkt. Es geht um das Wahrnehmen und Spüren. Am besten, ohne zu bewerten. Auch, ohne das Bewerten zu bewerten 😉
Meditation ist selbst die Praxis der Akzeptanz und Selbstannahme. Mit nicht wertender, offener Aufmerksamkeit zu sitzen bedeutet, allem, was auftaucht, zu erlauben, ein vorübergehendes Zuhause in der Weite des Bewusstseins zu finden.
Paul R. Fulton (2023) Mindfulness Practice as Advanced Training for the Clinician (eigene Übers.)
Neben dieser Achtsamkeits-Praxis schreibe ich, um meine Gedanken zu sortieren, und versuche, im Alltag möglichst präsent zu sein, jenseits vorgefertigter Erwartungen, fester Vorstellungen und Bewertungen.
Das ist erstaunlich nahe an der täglichen Arbeit in meiner psychoanalytischen Praxis, wenn ich mich den Einfällen meiner Patient*innen mit „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ zuwende, um dadurch einen Zugang zum Unbewussten zu finden.
Man halte alle bewußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem ‚unbewußten Gedächtnisse‘, oder rein technisch ausgedrückt: Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke.
Sigmund Freud (1909) Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung
Auf der einen Seite das Bewusstseinstraining der buddhistisch begründeten Geistesschulung mit ihrer Achtsamkeits-Praxis und anderen Formen, auf der anderen Seite die psychoanalytisch begründete Erforschung des Unbewussten. Was verbindet diese zwei so gegensätzlich wirkenden Ansätze?
Diese Frage beschäftigt mich sowohl praktisch als auch theoretisch. Ich bin nach über 25 Jahren Berufserfahrung als psychiatrischer Facharzt, über 15 Jahren als Psychotherapeut und 12 Jahren als Psychoanalytiker wieder (und weiterhin) ein Lernender.
Achtsamkeits-Praxis und Psychoanalyse als Lernen durch Erfahrung
Beide Lehren – die der buddhistischen Psychologie und der Psychoanalyse – haben auf viele Fragen in der täglichen Arbeit in meiner Praxis sehr hilfreiche Antworten. Viele davon ergänzen einander auf vielversprechende Art. Das gilt in besonderer Weise für den Stellenwert der „gelebten Erfahrung“ im gegenwärtigen Moment. Daraus ergeben sich spannende Fragen, die mich täglich dazu inspirieren, ihnen in meiner Arbeit und der Selbsterfahrung der Achtsamkeitspraxis nachzugehen.
Ich frage mich zum Beispiel:
- Lässt sich das, was ich durch Bewusstseinstraining erfahre, als buddhistische Praxis in die tägliche Arbeit als Psychotherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut integrieren? Lässt es sich gar in Deckung bringen mit der gleichschwebenden Aufmerksamkeit in der Grundregel der Psychoanalyse Sigmund Freuds, und wäre somit längst präsent?
- Welche Rolle spielt die Verbundenheit mit allem, die in der buddhistischen Lehre eine existentielle Grundannahme ist, für das Selbstgefühl bei uns „im Westen“? Nach buddhistischer Auffassung existiert kein separates Selbst, alles ist verbunden.
- Welche Bedeutung haben Achtsamkeit, Mitgefühl, Gleichmut, liebende Güte und Präsenz in der Auseinandersetzung mit leidvollen Erfahrungen?
Bei meinen Erkundungen profitiere ich von den Erfahrungen Lehrender, aber auch anderer Lernender, die mir in ihrer Praxis „nur ein paar Schritte voraus“ sind.
Daraus ist meine Idee entstanden, mit eigenen Erfahrungsberichten aus meiner Achtsamkeits-Praxis etwas von dem, was mir dabei vermittelt wurde, und meine eigenen Einsichten weiterzugeben.
Meine Beiträge auf dieser Seite sind zum einen „work in progress“. Ich lerne, während ich schreibe, und lasse Sie an meinen Erfahrungen teilhaben. Sie sollen aber auch die Erkenntnisse fundierter Erforschungen wiedergeben, wie solider Recherchen, Einsichten aus einer qualifizierten Selbsterfahrung, und Erkenntnisse aus dem Austausch mit Fachleuten.
Wenn Sie sich als Fachkraft im Gesundheitswesen oder speziell als Psychotherapeut*in oder Achtsamkeitstrainer*in mit ähnlichen Fragen auseinandersetzen, und Sie sich durch meine Gedanken zu eigenen Überlegungen haben anregen lassen, lassen Sie es mich wissen. Ich freue ich mich auf den Austausch mit Ihnen.