Bewegende Erfahrungen als Momente der Transformation

Newsletter #8 vom 23.11.2024

Wie können wir bewegende Erfahrungen im Alltag, im Beruf wie auch in der Psychotherapie nutzen, um Veränderungen in uns und anderen zu bewirken?

Welche Formen der Transformation inspirieren uns als Psychotherapeut*innen, Supervisor*innen oder Coach*innen?

Was lässt uns innehalten, angesichts der notwendigen Veränderungen, die wir sehen? Und was bringt uns dann voran, rüttelt uns auf, lässt uns handeln?

Und nicht zuletzt: Was sind bewegende Erfahrungen, die uns selbst verändern?

Um Ihnen meine Gedanken dazu illustrieren zu können, nehme ich Sie heute mit auf eine Reise in meine Vergangenheit – lange bevor ich Psychoanalytiker wurde.

Ich berichte Ihnen von Erfahrungen, ohne die ich womöglich beruflich ganz woanders gelandet wäre.

Inspiriert hat mich dazu ein ​Beitrag von Sven Steffes-Holländer​, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und ärztlicher Direktor der Heiligenfeld-Klinikgruppe.

Er war gemeinsam mit Menschen zu einer Sendung des SWR-Nachtcafés eingeladen, die sich in sehr unterschiedlicher Weise im Alltag und in Extremsituationen für Andere engagierten.

Steffes-Holländer bezeichnet diese Begegnung als bewegende Erfahrung. Sein Bericht hat einiges in mir angestoßen, und so schreibe ich heute, um für Sie mit diesem Perspektivwechsel ein paar wesentliche Gedanken zur Diskussion zu stellen.

Ich hoffe, Sie können davon profitieren, auch wenn es zunächst wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Das ging mir damals selbst genauso.

Ein Beispiel

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich zu Beginn meiner ärztlichen Laufbahn - damals war ich in einer psychosomatischen Klinik tätig - 1993 zu Beginn des Winters eines Morgens im Haus meiner WG einen unerträglichen Geruch aus unserem Keller wahrnahm.

Ein Wohnungsloser hatte dort Zuflucht gefunden. Ohne Toilette. Den Rest müssen Sie sich denken. Klar, dass wir ihn trotzdem nicht einfach zurück auf die Straße schicken wollten.

Auf der Suche nach Hilfe landete ich im Kirchencafé bei uns um die Ecke, wo eine Wohnungslosen-Selbsthilfe-Initiative ihre Sprechzeiten hatte.

Wir kamen ins Gespräch. Rolf und Christian - ehemals selbst wohnungslos - berieten mich, wie ich Dieter dem Wohnungslosen helfen könnte.

Dieser Kontakt zu den Drei war rückblickend ein transformativer Moment. Ich war tief bewegt von ihren Erzählungen vom Leben auf der Straße und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, was in meiner unmittelbaren Nachbarschaft so alles passierte.

Was macht bewegende Erfahrungen zu transformativen Momenten?

Ich beschreibe eine bewegende, prägende Erfahrung im Alltag, eine besondere Begegnung in der Nachbarschaft, um die grundlegenden Prinzipien zu illustrieren, die dabei zusammentreffen.

  • Was bewirkt, dass eine solche Erfahrungen etwas in uns anstößt, das uns nicht mehr loslässt?
  • Wie gerät etwas in unserem Leben vielleicht schon durch einen Millimeter der Richtungsänderung letztlich zu einem entscheidenden Faktor für Veränderung?
  • Und was lässt uns dann wirklich ins Handeln kommen, um anderen zu helfen, oder eine eigene Entscheidung umzusetzen?

Folgende günstigen Voraussetzungen sind hilfreich, damit Transformation gelingen kann:

  • Bewegendes
  • Intention
  • Impuls und Motivation
  • Lernen durch Erfahrung
  • Ausdauer und Zeit
  • Einsicht – Präsenz – Prozess – Praxis
  • Offenheit – Halt durch Haltung.

Bewegendes

Wir sind ergriffen. Etwas berührt uns zutiefst. Wir halten inne oder kommen aus dem Tritt. Es ist also etwas, das sich von dem unterscheidet, was wir vorher getan haben, und das uns dabei emotional erreicht.

So war es für mich. Ich begegnete einer neuen Welt inmitten meines Alltags, meiner Nachbarschaft. Wohnungslose gehörten auch damals schon zum Straßenbild, aber nicht in mein wohl behütetes Leben.

Doch was unterscheidet das tiefe emotionale Erleben von Erfahrungen, die in uns eine solche Veränderung bewirken können, von der Vergänglichkeit eines kurzen Rausches, eines Adrenalin- oder Dopamin-Kicks, der genauso schnell verschwindet, wie er gekommen ist?

Handeln beginnt mit der Intention

Meine Erfahrung ist: etwas in mir wird angestoßen, das bereits da war. Ein äußeres Ereignis trifft auf ein inneres Entgegenkommen geschieht.

Dann entsteht etwas Neues, Drittes. Ein fruchtbarer Moment, ein zündender Funke – und man könnte sagen, dass nichts mehr so ist wie vorher.

Daraus entsteht die Absicht. Das “zeugen” oder “auf die Welt kommen” ist zugleich ein Ereignis wie ein Wechsel von einem Zustand in einen anderen. Das nenne ich einen transformativen Moment.

Zurück zu meiner Geschichte von damals.

Während ich zuvor bereits tagtäglich darüber nachgedacht hatte, was ich fachärztlich tun möchte, brachte mich das Geschehen der folgenden Wochen auf die Spur, der ich die nächsten fünfzehn Jahre folgen sollte.Der Moment der Begegnung, in dem die Transformation ihren Anfang nimmt, war lediglich der Impuls.

Nach drei Wochen Straße ist keiner mehr gesund. Kaum einer sucht dann jedoch ärztliche Hilfe.

Die Wohnungslosen-Selbsthilfe war also auf der Suche nach einem Arzt, der mit ihnen auf die Straße gehen und kranke Wohnungslose aufsuchen könnte, um sie zu untersuchen und zu behandeln. Kostenlos und ohne Hürden.Sie fragten mich, ob ich mir das vorstellen könnte. Offenbar kam so eins zum anderen.

Die beiden sollten meine Begleiter werden bei meinen ersten Straßenbesuchen, nachdem ich mit dem Kölner Gesundheitsamt die fachlichen Aspekte besprochen und deren Unterstützung erhalten hatte, in Form fachärztlicher Supervision (ich war damals ja noch Berufsanfänger) und Material.

Der erste Schritt – und schon bist Du in Bewegung

In der Intention ist bereits ein Akt der Veränderung angelegt. Was jedoch ausschlaggebend dafür ist, ob ich den ersten Schritt tue oder wieder zurück in den vorherigen Zustand falle, ist die Intention und die Motivation.

Ich brauche den Impuls zum Handeln, und die Intention für die Ausrichtung meines Handelns, in die ich mein Tun lenke. Die zehrt von der Erfahrung, die ich gemacht habe.

So wanderte ich regelmäßig einmal die Woche durch die Kölner Innenstadt, ausgerüstet mit einem alten Fotokoffer, der für meine Zwecke geeignet erschien.Darin: Verbandsmaterial, einige Medikamente, Stethoskop, Augen- und Ohrenspiegel, Handschuhe etc.

Mit den ersten Wohnungslosen musste ich um einen Kasten Bier wetten, dass ich ein Arzt bin. Offenbar waren sie sich sehr sicher, dass sie gewinnen würden. Nun, ich gewann mit Hilfe meines Arztausweises, und der mir am nächsten Stehende brauchte anschließend dringend meine Hilfe.Sein Pullover bewegte sich, so dass mir einen kurzen Moment schwindlig geworden war, als wir uns begrüßt hatten. Bei näherem Hinsehen wimmelte es von Läusen.

Lernen durch Erfahrung

Die bewegende Erfahrung zeichnet sich durch das Zusammentreffen der inneren und der äußeren Bewegung aus. Etwas geschieht, das in mir etwas in Bewegung setzt, das mich in Bewegung setzt. So einfach ist das.

Aus dem Moment wird das Momentum. Der Schwung, der kritische Augenblick.

Und doch ist es oft so schwer.

In jedem Fall, wenn es darum geht, dann in Bewegung zu bleiben, um etwas voran zu bringen.

Ich lernte in den nachfolgenden Wochen und Monaten schnell, was so gebraucht wird. Da es im Gesundheitsamt einen umgebauten RTW gab, um an den Szeneplätzen Drogenabhängige behandeln zu können, gab es bald dieses fahrbare Sprechzimmer auch für Wohnungslose.

Mit der zunehmenden Bekanntheit, einer wachsenden Zahl an Ärzt*innen und Pflegekräften, die wir gewinnen konnten, um ehrenamtlich mitzuwirken, und Spenden aus der Öffentlichkeit wuchs auch die Verantwortung.

So entstand bald ein regelmäßiges Angebot, ein neu gegründeter Verein “Gesundheit für Wohnungslose” (für den Sie heute noch, lange nach meinem Ausscheiden, spenden können: ​http://gesundheitfürwohnungslose.de​) und eine Perspektive für mich als Arzt, um später nicht nur ehrenamtlich, sondern hauptberuflich in diesem Bereich zu arbeiten.

Mit Ausdauer und Zeit zum Erfolg

Aller Anfang ist besonders mühevoll. Der Impuls aus der noch frischen Erfahrung ist vielleicht bald verbraucht. Aber wenn ich in Schwung bin, kann ich diese Energie ausnutzen, um leichter in Bewegung zu bleiben. Heute sprechen wir davon oft als von einem sogenannten “Flywheel”, einem Schwungrad, als Prozess, der immer wieder durchlaufen wird und das Anliegen immer leichter in Schwung hält.

Ausdauer und ein langer Atem gehören sicherlich dazu, wenn etwas nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein soll, sondern langfristige, spürbare Veränderung bewirken muss.

Doch dafür braucht es noch mehr.

Einsicht – Präsenz – Prozess – Praxis

Aus dem kleinen lokalen Projekt entstand im Laufe der nachfolgenden Jahre - natürlich nicht alleine durch mich, sondern in der Verbundenheit vieler - ein ambulantes medizinisches Versorgungsprojekt für Wohnungslose auf der Straße, in Einrichtungen der sozialen Hilfe in ganz NRW.Mit viel öffentlicher Unterstützung und gemeinsam mit sozialen Trägern wurde ein eigener Versorgungsbereich im Mobilen Medizinischen Dienst der Stadt Köln für Wohnungslose ins Leben gerufen, mit dem Menschen auf der Straße medizinische Soforthilfe und dauerhafte ärztliche und pflegerische Versorgung erhalten - noch heute.

Dazu brauchte es

  1. Einsicht in die Notwendigkeit der dauerhaften Veränderung
  2. Präsenz, um zu wissen, was gebraucht wird, und das nicht nur materiell, sondern zu allererst menschlich, emotional, handelnd und mitfühlend
  3. Einen Prozess der sich entwickelnden und einander ergänzenden Elemente, damit daraus etwas Vernünftiges wird
  4. Eine regelmäßige Praxis, um in Bewegung zu bleiben und sich weiterzuentwickeln.

Wer Offenheit sucht, braucht Halt durch Haltung

Damit sich aus diesen Impulsen und Momenten ein tiefgreifender, transformativer Prozess entwickeln konnte, brauchte es zugleich auch die Offenheit für das Unvorhersehbare.

So mussten immer wieder Strategien überdacht und verworfen, Menschen spontan unterstützt und begleitet werden, deren Schicksal uns vor neue Herausforderungen stellte, und Profis gewonnen werden, um das Ganze auf fachlich belastbare Grundlagen zu stellen.

So ließ sich durch den persönlichen Glauben einiger Ehrenamtler:innen schon ein gewisser Rückhalt in einem Teil der Menschen erkennen, die bei dieser Initiative mitwirkten. So war es damals auch noch bei mir.Aber daneben gab es auch Menschen, die aus einer humanistischen Haltung heraus professionell handelten, oder aus Dankbarkeit, die sie gegenüber denjenigen empfanden, durch die sie selbst Hilfe erhalten hatten, als sie selbst in einer Notlage waren.

Allen gemeinsam war in den so unterschiedlichen Motiven aber eine Haltung, die ihnen dazu verhalf, die Angst zu tolerieren, die sich im Umgang mit solchen Herausforderungen häufig ergibt:

  • Angst vor Zurückweisung
  • Angst vor Scheitern und Versagen
  • Angst vor Unsicherheit
  • Angst vor Krankheit und Elend

Haltung erzeugt Angsttoleranz

Diese Haltung und die Verbundenheit unter Gleichgesinnten ermöglicht so den Einzelnen, über sich selbst hinauszuwachsen, sich zu entwickeln, Unsicherheit auszuhalten, ihr Potential zu entfalten.

Ohne diese Begegnungen wäre ich nicht Psychiater geworden. Ohne diese bewegenden Erfahrungen hätte ich nicht den Entschluss gefasst, beim öffentlichen Gesundheitsdienst zu arbeiten. Wäre nicht promoviert. Heute nicht als Psychotherapeut niedergelassen.

Und wie ist das in der Psychotherapie?

In der geschilderten Entwicklung konnte ich den Prozess von der bewegenden Erfahrung zur Transformation leichter darstellen als mit Hilfe verschiedener Verläufe in der Psychotherapie, im Gespräch, in den inneren Prozessen therapeutischer Auseinandersetzung.

Anhand der vielen unterschiedlichen Aspekte, die ich in den vorangegangenen Abschnitten kurz angerissen habe, wird die Komplexität des Geschehens glaube ich deutlich.

Hier noch einmal die Liste der günstigen Voraussetzungen:

Bewegendes - Intention - Impuls und Motivation - Lernen durch Erfahrung - Ausdauer und Zeit - Einsicht - Präsenz - Prozess - Praxis - Offenheit - Halt durch Haltung.

Einiges davon wird sich für Sie womöglich nahtlos mit eigenen Erfahrungen in Ihrer Arbeit in Verbindung bringen lassen.

Nicht jeder bewegende Moment hat diesen Verlauf, doch alle haben das Potential, in der richtigen Konstellation transformativ zu werden. Einige der dazu erforderlichen und hilfreichen Faktoren habe ich versucht mit meiner Schilderung greifbarer zu machen.

Für therapeutische Prozesse und Begegnungen in Beratung und Coaching gilt jedoch Folgendes besonders:

  • die zentrale Bedeutung der Beziehungsdynamik in der miteinander geteilten Erfahrung der Präsenz, die in uns eine Resonanz hervorruft
  • innere Transformation ist von einem intensiven Prozess der Integration in die Persönlichkeit begleitet.
  • Widerstände und Hindernisse äußern sich oft subtil, und können zu Stagnation, Rückschritten oder Verwerfungen führen

Ich betrachte die Thematik dieses Newsletters als “work in progress”, als eine Einladung zum Gespräch.

Es würde mich heute jedenfalls ganz besonders freuen, wenn Sie sich dazu angeregt fühlen würden.

Für Ihre Gedanken können Sie mir gerne unter dieser Newsletter-Ausgabe einen Kommentar hinterlassen, oder mir

eine Nachricht schicken.

Und jetzt: in die Praxis.

Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,

Sönke Behnsen

Schreiben Sie einen Kommentar

Index