Wenn wir unter Druck stehen, reagieren wir schnell und impulsiv auf innere oder äußere Reize. Wir fühlen uns in eine Richtung gedrängt, wollen einen unangenehmen Zustand beenden oder einen angenehmen Zustand, den wir zu verlieren drohen, festhalten.
Das ist nicht immer sinnvoll, mitunter eher ein Ausdruck von Abhängigkeit, wenn wir uns an solche drangvollen Befriedigungen oder Kontroll- und Vermeidungsreaktionen gebunden fühlen.
Wie können wir aber darauf Einfluss nehmen? Wie können wir die innere Fähigkeit entwickeln, statt einer solchen impulsiven Reaktion nicht zu handeln, sondern zu entscheiden, was wir wirklich wollen, um dann besser handeln zu können als aus der Reiz-Reaktions-Kette heraus?
Viktor Frankl, der Holocaust-Überlebende und Begründer der Logo-Therapie, beschreibt den Raum zwischen Reiz und Reaktion als denjenigen Zeitraum, in dem unsere Freiheit zum Handeln und zur Sinnstiftung entsteht.
Hier noch einmal das betreffende Zitat, das ich bereits in meinem Beitrag „Gesteuertes Denken“ verwendet hatte:
„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“
Viktor E. Frankl (1905-1997)
Wenn wir uns diesen Zwischenraum also als Ausdruck der Möglichkeit vorstellen, Handlungsimpulse wahrzunehmen, die auf einen Sinnesreiz, einen von innen kommenden Reiz durch ein Gefühl oder auf eine Vorstellung hin erfolgt, dann sehen wir uns danach mit der Wahl konfrontiert, ob – und wenn ja was – wir tun sollen.
Das stelle ich mir als die Freiheit vor, von der Frankl sprach.
Damit verbunden ist dann auch die Option, NICHT zu handeln, vorausgesetzt, wir besitzen die Fähigkeit, den Handlungsimpuls zwar wahrzunehmen, ihn aber nicht wirksam werden zu lassen. Das gälte es also dann, wenn wir erkennen, dass die Handlung, die aus diesem Impuls heraus erfolgen wird, unseren Werten widerspricht und damit unserer Integrität schadet.
Das ist insbesondere unter Druck oft sehr schwer, wenn uns ein intensiver Reiz unvorbereitet trifft und zum Handeln drängt.
Gleichwohl sind diese Momente meines Erachtens durchaus diejenigen, in denen die Fähigkeit, (erst einmal) nicht zu handeln, von unschätzbarem Wert sein kann, ob wir sie nun einsetzen oder nicht. Aber dazu später noch einmal.
Wie lässt sich also die Fähigkeit, trotz des Impulses dazu nicht zu handeln, erwerben?
Ein Teil unserer Impulskontrolle dient dazu, sich der automatischen Identifikationsmechanismen bewusst zu werden und unreflektierte Handlungen zu unterlassen, um uns vor Schaden zu bewahren und das Handeln wieder an den Prinzipien und Werten auszurichten, die unser Leben bestimmen sollen.
Um also
- die Reize als solche wahrzunehmen und zu untersuchen,
- die unmittelbare Reaktion darauf auszusetzen,
- die Prinzipien und Werte zu finden, nach denen wir unser Handeln ausrichten möchten,
- sie in den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu integrieren und dadurch
- die auch von Viktor E. Frankl beschriebene Wahl überhaupt treffen zu können,
können wir uns nach Thomas Metzinger, emeritierter Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Mitglied der Deutschen Nationalen Akademie Leopoldina, dem Prinzip des epistemischen Handelns bedienen, das heißt des Handelns um der Erkenntnis willen.
Wir tun sozusagen so, als würden wir etwas tun. In Wirklichkeit suchen wir nach Entscheidungskriterien, bilden uns eine Meinung oder finden eine Haltung zu dem, was uns drängt.
Das Streben nach Integrität (also der Übereinstimmung von Handeln und Werten) bedeutet dabei nicht etwa, sich alleine auf den Intellekt zu fokussieren. Wir versuchen, jenseits des bloßen Denkens eine innere Aufmerksamkeit zu kultivieren, die sich zum Beispiel in Achtsamkeit und Mitgefühl äußert.
Laut Metzinger lässt sich intellektuelle Redlichkeit jedoch als alternatives Modell zur „zweckoptimistischen Orientierung an Selbstwirksamkeit in der Bewältigung grundlegender Krisen“ verstehen, um den Intellekt dann in den Dienst unseres achtsamen Wahrnehmens und Mitfühlens zu stellen.
Intellektuelle Redlichkeit entwickelt sich dadurch, dass wir unsere Fähigkeit zur Bewusstheit des Bewusstseins erweitern. Wir bringen uns sozusagen zu uns selbst, und unserem Erleben „auf Linie“ und orientieren uns daran.
Sobald es uns gelingt, uns dieses Bewusstseins – als Gesamtheit unseres erlebenden Selbst – bewusst zu werden, es also immer verlässlicher wahrzunehmen, zu vergegenwärtigen, bildet sich daraus die Fähigkeit, die uns zugänglichen Erkenntnisse des epistemischen Handelns für unser durch Werte geleitetes Engagement einzusetzen.
Wie lerne ich das konkret?
Für mich heißt epistemisches Handeln zum Beispiel, einen wahrnehmbaren Zustand (Gereiztheit, Unruhe, Sorge) mit Hilfe der Meditation genauer zu untersuchen, oder wie der Zen-Meister Thich Nhat Hanh es ausdrückt, tief zu schauen.
Dadurch handeln wir im engeren Sinne auch, weil auch die Meditation ja Ausdruck einer Haltung ist, die wir handelnd einnehmen, aber wir setzen sozusagen ein begrenztes Handeln ein, um ein äußeres, darüber hinausgehendes und reaktives Handeln vorübergehend ausser Kraft zu setzen.
Am leichtesten lernt sich das folgendermaßen:
- Suchen Sie sich einen ruhigen, sicheren Ort, an dem Sie sich eine Weile ungestört aufhalten können. Wie lange, das liegt ganz an Ihnen.
- Setzen oder legen Sie sich in eine für Sie angenehmen Position.
- Fokussieren Sie sich auf ihre Atmung. Alles andere (Körpergefühle, Gedanken, Eindrücke, Geräusche etc.) darf da sein, darf jedoch von Ihrer Aufmerksamkeit unberührt bleiben. Sie lassen es geschehen, reagieren jedoch nicht darauf.
- Als Nächstes nehmen Sie das Einatmen und Ausatmen sozusagen als Anker für die Wahrnehmung eines erweiterten Radius in Ihrer Aufmerksamkeit, indem Sie den atmenden Körper spüren. Das kann die Nase sein, die kribbelt, während Sie einatmen, die Atemluft, die beim Ausatmen etwas wärmer ist als bei der Einatmung, oder das Heben und Senken Ihrer Bauchdecke.
- Zuletzt wenden Sie sich dem Zustand zu, den Sie zum Ausgangspunkt Ihrer Untersuchung machen wollen. Spüren Sie eine Unruhe? Gibt es eine gereizte Stimmung in Ihnen? Nehmen Sie sie als das wahr, was Sie in diesem Moment spüren, und beobachten Sie, sobald sich Gedanken in Form von Vorstellungen äußern, die dazu dienen sollen, dieser Gereiztheit einen Namen, eine Bedeutung oder einen Sinn zu geben.
- Der jetzt folgende Schritt ist besonders wichtig. Erkennen Sie an, dass es dieses Bestreben gibt, aber folgen Sie ihm nicht, sondern versuchen Sie, weiterhin bei der Wahrnehmung der Spannung, der Unruhe etc. zu bleiben, und lassen Sie die Vorstellungen Vorstellungen sein, so gut es geht.
- Nehmen Sie an, dass die Unruhe kommt, eine Weile bleibt, und dann vergeht. Nichts ist beständig. Alles ist vergänglich. Jeder Zustand verändert sich, wenn auch manchmal nur langsam, kaum merklich, in einzelnen Aspekten oder allmählich.
- Nun kehren Sie zu Ihrer Atmung zurück. Der Körper atmet eigenständig. Während Sie mit der Unruhe beschäftigt waren, unmerklich vielleicht, aber ohne Ihr Zutun.
- Das ist alles.
In der Vorstellung, dass wir uns etwas aktiv überlegen müssten, um zu einer alternativen Lösung zu finden, gibt sich manchmal ein Abkömmling der Unruhe, des Zweifels oder der Sorge, einer Angst oder Unsicherheit zu erkennen. Wenn es uns gelingt, den wahren Charakter dessen, was wir wahrnehmen, zu spüren, haben wir einen großen Schritt in Richtung Bewusstsein getan. Die Vergänglichkeit ist Teil des Wesens aller Phänomene.
Wenn wir wahrnehmen und verinnerlichen, dass auch die Reize, die uns zum Handeln drängen, dieser Vergänglichkeit unterliegen, dann haben wir erkannt, dass unser Verweilen manchmal die beste Antwort auf einen drängenden Reiz bietet. Er vergeht. Wir haben uns nicht dazu drängen lassen, etwas zu tun.
Es war nicht notwendig. Es gab keine Not zu wenden.
In allen anderen Situationen wird sich die dadurch entstandene Gelassenheit positiv auswirken. Werte, Prinzipien und Haltungen haben wieder eine Chance, handlungsleitend zu werden.
Diese Gelassenheit wird jedoch nur langsam beständiger, und nur dadurch, dass wir sie üben und dabei erleben, uns vertraut machen mit den Spannungszuständen, die ihr oft vorausgehen, wenn wir nicht handeln, und die damit einhergehende Unsicherheit nicht mehr als so bedrohlich empfinden, dass sie uns zur Reaktion zwingen könnte.
1 Gedanke zu „Von der Fähigkeit, nicht reaktiv zu handeln“