Newsletter #16 vom 15.03.2025
In der vergangenen Ausgabe schrieb ich über unser aktives Handeln und sichtbares Engagement als Psychotherapeut*innen angesichts gesellschaftlicher Umwälzungen und Konflikte.
Heute geht es darum, mit folgenden Fragen einer bewussten Positionierung als Psychotherapeut*in im gesellschaftlichen Kontext noch einen Schritt weiterzudenken:
- Welche psychotherapeutische Haltung bestimmt, wie wir den Fragen unserer Zeit und den Problemen unserer Patient*innen auch in Phasen großer Unsicherheit angemessen begegnen, ohne dabei auszubrennen?
- Was kann uns als Psychotherapeut*innen gut für unsere Arbeit ausstatten?
- Welches Vorgehen sollte eine Aus- und Weiterbildung in Psychotherapie vermitteln, um zeitgemäß zu sein – auch noch nach Jahrzehnten täglicher Praxis, und unabhängig vom vermittelten Verfahren?
Ich versuche, einen konzeptuellen Hintergrund zu skizzieren, der sich für die oft ganz alltagsnahen Überlegungen zur Praxis der Präsenz eignet, über die ich alle vierzehn Tage in meinem Newsletter schreibe.
Hätten Sie also heute Lust auf ein bisschen mehr „meta“?
Was verhilft uns und unseren Patient*innen eigentlich zu unseren Erfolgen?
Psychotherapeutischer Erfolg zeichnet sich auf Seiten unserer Patient*innen im Wesentlichen durch drei Aspekte aus, die uns in unserem therapeutischen Handeln leiten:
- Änderung des Verhaltens
- Änderung des Befindens
- Änderung des Denkens
Wir arbeiten mit unseren Patient*innen daran, ein subjektiv empfundenes Leiden, ein störendes oder leidvolles Verhalten bzw. Denken, oder eine objektivierbare Erkrankung (im Sinne einer nach festgelegten Regeln diagnostizierten Störung) positiv zu verändern.
Das ist die Voraussetzung einer erfolgreichen psychotherapeutischen Behandlung.
Was aber trägt dazu bei, das wir über alle Schulen, unser therapeutisch-technisches Können und unsere pragmatisch-praktischen Bemühungen hinweg dauerhaft eine erfolgreiche, therapeutische Arbeit leisten können?
Nicht was, sondern wie erlebe ich?
Wenn wir Verhalten ändern wollen, müssen wir die dahinter stehenden Haltungen erreichen, die durch prägende Erfahrungen entstanden sind, und auch durch solche veränderbar sind.
Werner Theobald, Gerald Hüther in „Eine Frage der Haltung!“
Dazu reicht es nicht, rationale Begründungsstrategien und Wissen zu vermitteln, sondern auch emotionale Ebenen zu erreichen, die die neue Vernetzung im Sinne der aktivitätsbasierten Neuroplastizität ermöglichen.
Wenn wir unseren Patient*innen bei dieser Entwicklungsaufgabe helfen und uns darauf optimal vorbereiten wollen, sollten wir dasselbe in unsere eigene, tägliche Praxis integrieren sowie in Aus- und Weiterbildungen vermitteln.
Ergebnisse der modernen Stressforschung (Cohen et al., 1986) zeigen, dass Stress (im Sinne der messbaren, körperlich-seelischen Belastungsreaktion) weniger mit dem eigentlichen Ereignis als vielmehr mit der subjektiven Einschätzung der eigenen Fähigkeit zu tun hat, die Herausforderung zu bewältigen.
Die Entwicklung einer dezidierten, von Werten und Einstellungen bestimmten Haltung bildet für dieses „Wie“ des Erlebens eine gute Voraussetzung. Damit können wir unterschiedlichsten Aufgaben begegnen und bei Bedarf spezifische Skills (für das „Was“) entwickeln.
Joseph Goldstein, ein amerikanischer Lehrer des Buddhismus in der Tradition des Vipassana, sagt dazu aus Sicht der Achtsamkeitspraxis:
„It’s not what’s happening to you or in you, it’s how you relate to it that matters.“
Um ein möglichst flexibles Vorgehen zu wählen, besteht ein weiterer Vorteil von „Haltung“ darin, dass sie uns ein prozessorientiertes, von einem konkreten Ergebnis unabhängiges Arbeiten ermöglicht.
Das erleichtert die Orientierung in unsicheren Zeiten und in komplexen und unübersichtlichen Situationen, in denen wir uns auf neue Fragen einstellen, uns mit komplexen Ängsten auseinandersetzen und unsere gesellschaftliche Position immer wieder neu bestimmen müssen.
Wilfred R. Bion (1970) beschreibt die Haltung, an die ich hierbei denke, den Dichter John F. Keats zitierend, als „Negative Fähigkeit, das heißt, wenn jemand fähig ist, das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen.“ (2009, S. 143).
Diese Fähigkeit ist gepaart mit der Bereitschaft, sich auf ein Nicht-Wissen, eine fragende Haltung einzulassen. So ausgestattet, können wir unseren Patient:innen offener im Hier und Jetzt des Beziehungsgeschehens begegnen.
Wie lässt sich das in die Praxis umsetzen?
Wie entwickeln wir eine solche „Praxis“ als Haltung?
Im Titel meines Newsletter „Praxis der Präsenz“ sind beide Worte gleichermaßen bedeutsam.
„Praxis“ bezeichnet einen Teil dieser Haltung, mit der ich etwas in einer Weise ausübe, die mich zugleich handeln und reflektieren lässt.
Es ist ein „Werden im Tun.“
Wir können uns dabei eine Form des „Lernens aus Erfahrung“ vorstellen, die im Zen „Anfänger-Geist“ genannt wird.
Dabei schöpfen wir nicht aus einer einmal erworbenen Expertise, sondern erleben und handeln als Teil eines Prozesses, den wir im besten Sinne als „Praxis der Präsenz“ bezeichnen können.
Regelmäßig begegnen wir in unserem psychotherapeutischen Alltag jedoch einem grundlegenden Problem:
Unser Verhalten und Erleben ist geprägt von unseren bisherigen Erfahrungen. Das entspricht im günstigsten Fall dem Ergebnis unseres Lernens und bildet die Voraussetzung für unser erworbenes Wissen und das fachliche Können.
Gleichzeitig formt sich so jedoch auch die Voraussetzung für unser von Angst geleitetes, reaktives Verhalten, mit dem wir uns und unseren Mitmenschen regelmäßig Schwierigkeiten einhandeln.
Dieses Verhalten dient letztlich unserem Überleben, aber dabei geht unser Gehirn bekanntlich oft sehr eigenwillige Wege.
Idealerweise lernen wir also, das Gehirn mit Hilfe unseres Bewusstseins zu beaufsichtigen, indem wir uns darin üben und trainieren, was ich im Folgenden beschreiben werde.
Wir wenden uns jetzt damit der Frage zu, wo sich Spielräume für Entwicklung und Veränderung, für Bewusstsein und nicht-reaktives Handeln zeigen.
Diese Spielräume sind das, was wir nutzen, um unsere Haltungen wirksam werden zu lassen.
Mind the Gap
Immer wieder gilt es, eine Lücke zu finden:
- Zwischen dem fatalistischen Determinismus eines Diagnose-geprägten, medikalisierten Vorgehens und einem von moralistischem, freien Willen gekennzeichneten „Alles ist möglich, wenn Du Dir Mühe gibst“ brauchen wir einen Bereich, in dem wir Einfluss nehmen können.
In diese Lücke hinein versuchen wir, uns von traumatischen Narrativen zu lösen und unsere Aufmerksamkeit mit Weisheit zu ergänzen. So können wir lernen, die Fähigkeit zur Einsicht in normalerweise verborgene Eigenschaften der Realität zu vertiefen und zu verfeinern. - In der buddhistischen Lehre gibt es das Gesetz des bedingten Entstehens. Dabei handelt es sich um einen Kreislauf, dem das Prinzip von Ursache und Wirkung zugrunde liegt. Dieser Kreislauf lässt uns in der Gegenwart eine Lücke, die wir nutzen können. Sie liegt zwischen dem Empfinden einer Sinneserfahrung und der nachfolgenden, unmittelbaren und impulsiven, affektiven Reaktion auf diese Empfindung. In dieser Lücke, einem oft kaum wahrnehmbaren (und durch Geistestraining erweiterbaren) Zeitfenster treffen wir unsere Wahl – bewusst oder unbewusst.
Metakognitives Bewusstsein (also das Bewusstsein unseres Bewusstseins) hilft uns, diese Lücken auszumachen.
Statt also in der Reaktivität zu landen, können wir, geleitet von Weisheit und ethischem Handeln, „den fruchtbaren Boden der Möglichkeiten kultivieren, indem wir neue Samen pflanzen, die in gesunder Entwicklung Früchte tragen und schließlich die reiche Ernte der Befreiung einbringen.“ (Miles Neale, 2023)
Was zeichnet eine geeignete psychotherapeutische Haltung aus?
Welche Eigenschaften sollte eine Haltung mitbringen, damit sie als Teil einer täglichen Praxis handlungsleitend und auch in Aus- und Weiterbildungen etabliert werden kann?
- Sie muss leicht umzusetzen sein
- Je einfacher die Haltung eingenommen werden kann, desto größer ist ihre Praxistauglichkeit
- Sie muss einem Narrativ folgen, das die Menschen auch in ihrem täglichen Alltag erreicht
- Jede:r hat eine Vorstellung davon, was es heißt, offen zu sein – auch wenn diese Vorstellungen voneinander abweichen werden. Es lässt sich jedoch gut darüber austauschen und Beispiele dafür finden
- Sie muss trainierbar sein
- Haltungsübungen als Teil einer regelmäßigen Selbsterfahrung und eines Trainings etablieren und verankern eine Haltung als Gewohnheit.
- Sie muss vermittelbar sein, damit sie in die Breite gehen kann
- Das Training von Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Nicht-Wissen, Wohlwollen, Zugewandtheit etc. kann angeleitet erfolgen oder nach entsprechender Vermittlung auch selbständig ausgeübt werden
- Sie sollte weltanschaulich und verfahrens-neutral sein und zugleich ethischen und moralischen Prinzipien folgen, die die Basis für das Handeln bilden
- Neutralität ermöglicht die Anwendung über Grenzen unterschiedlicher Verfahren, Glaubenshaltungen, sprachlicher Konventionen und Weltanschauungen hinweg. Sie bildet die Voraussetzung für eine Verbreitung und erleichtert den interdisziplinären Dialog.
Dazu benötigen wir also eine Haltung, die uns einen Zugang zum Erlebten offenhält, und zugleich ein von Prinzipien geleitetes Handeln ermöglicht, das nicht immer wieder neu bestimmt, erfunden oder entworfen werden muss. Eine Revision sollte zugleich möglich und im Idealfall unaufwendig sein.
Erfahrungen aus meiner Achtsamkeitspraxis als Psychoanalytiker
Einer der Ausgangspunkte meiner Achtsamkeitspraxis war vor drei Jahren die Frage, wie sich eigentlich die psychoanalytische Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit trainieren lässt.
Dabei stieß ich auf das buddhistische Geistestraining und die Möglichkeiten, durch gezieltes Praktizieren meine Aufmerksamkeit zu lenken und offen zu halten.
In meiner täglichen Achtsamkeitsmeditation schaffe ich die Voraussetzung dafür.
Damit ich mich in jeder Stunde möglichst nahe an einer offenen, aufnahmefähigen und empathischen Begegnung mit meinen Patient*innen befinden kann, vergegenwärtige ich mir immer wieder, was ich in mir selbst und bei meinem Gegenüber wahrnehme – emotional und körperlich, sprachlich und szenisch.
Dabei hilft mir die durch mein tägliches Praktizieren eingeübte Haltung des achtsamen Gewahrseins.
Darüber hinaus habe ich mir folgende Verhaltensweisen angewöhnt:
- Ich schreibe während der Sitzungen nicht mit
- Sobald ich zu einer Einschätzung komme und bevor ich etwas interpretiere, versuche ich, das Gesagte aus einer anderen Perspektive zu betrachten, indem ich mich zum Beispiel frage: „Was wäre, wenn es anders wäre?“
- Ich formuliere meine Interventionen so oft wie möglich im Konjunktiv bzw. in Form einer Frage oder Überlegung, z.B. „Ich frage mich, ob…“ oder „Vielleicht könnte es sich dabei um … handeln?“
Das Arbeiten in der Psychotherapie von Stunde zu Stunde
„Warum taucht diese Erinnerung jetzt in diesem Moment bei dieser bestimmten Person auf?
Was sagt mir diese Erfahrung, diese Erinnerung, über das innere Leben dieser Person?
Wie ich bereits erwähnt habe, nehmen wir eine subjektive Erfahrung wie eine bestimmte Erinnerung, ein Gefühl, einen Gedankengang, eine körperliche Erfahrung und machen daraus Thomas Ogdens Begriff „ein Objekt der Analyse“.Seiso Paul Cooper (2023)
Wenn wir uns in der psychotherapeutischen Arbeit mit unseren Patient*innen bzw. Klient*innen daran orientieren, was uns als Ausdruck einer Haltung genügend Flexibilität und Offenheit ermöglicht, dann können wir unsere Aufmerksamkeit dem Geschehen in der Stunde zuwenden, ohne befürchten zu müssen, Wesentliches zu übersehen.
Im Gegenteil: Wir sind präsent im Hier und Jetzt und können ohne Besorgnis und mit einer fragenden Haltung aufnehmen, was unser Gegenüber in die Stunde mitbringt. Dabei zeigt sich je nach Anlass in der Beziehung ein gemischtes, kognitives und emotionales Anliegen, dem wir mit unserer Haltung begegnen und darauf in angemessener Weise antworten können.
So entwickelt sich das, was sowohl in der Interaktion auf personeller Ebene als auch (in beeindruckender Parallele) neuronal als „neue Vernetzung“ bezeichnet werden kann. Damit haben wir meiner Ansicht nach alle uns möglichen Voraussetzungen geschaffen, um mit unserer Arbeit wirksam werden und erfolgreich sein zu können.
Und jetzt: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen
Quellenverweise:
Bion, Wilfred R. (1970) Aufmerksamkeit und Deutung. Brandes und Apsel, Freiburg, 2009.
Cohen, S. et al. (1986) Behavior, Health, and Environmental Stress. Springer, New York
https://link.springer.com/book/10.1007/978-1-4757-9380-2
Cooper, P. (2023) Meditation, Wisdom and Compassion in Psychoanalytic Psychotherapy. In: Advances in Contemplative Psychotherapy. Routledge, New York, London.
Neale, M. (2023) Buddhist Origins of Mindfulness Meditation. In: Advances in Contemplative Psychotherapy. Routledge, New York, London.
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