Newsletter #18 vom 12.04.2025
Ich schreibe während meiner psychotherapeutischen Stunden nicht mit. Stattdessen vertraue ich darauf, dass mir wichtige Informationen, die ich im Gespräch mit meinen Patient*innen benötige, in dem Moment wieder einfallen werden, wenn ich sie brauche.
Zunächst war dieses Vorgehen für mich sehr gewöhnungsbedürftig. Ich war es als Mediziner gewohnt, viele Informationen innerhalb kürzester Zeit aufzunehmen, zu dokumentieren und zu strukturieren.
Ich hatte es so in meinen Praktika während meines Studiums gelernt und gehandhabt, bis mir auffiel, dass ich meine Patient*innen während der Anamnesen mitunter mehrfach nach dem fragte, was sie mir bereits geschildert hatten, obwohl ich es mir doch zuvor bereits notiert hatte.
Ich hatte also lediglich etwas schriftlich „festgehalten,“ mir jedoch keineswegs bewusst gemacht, mich nicht damit auseinandergesetzt. Während ich schrieb, hatte ich genauso wenig darüber nachgedacht, was denn eigentlich in der Situation selbst geschieht, und was über die rein kognitiven Informationen hinaus noch bedeutsam sein könnte.
Vielleicht hatte ich mich durch das Mitschreiben letztlich nur selbst an „etwas“ festgehalten, um mich dadurch sicherer zu fühlen?
Was aber hat das mit epistemischem Vertrauen zu tun?
In der Erkenntnistheorie oder auch Epistemiologie, einem Teilbereich der Philosophie, geht es um die Bedingungen von begründetem Wissen.
Dan André Sperber, ein französischer Anthropologe, definiert epistemisches Vertrauen als „das basale Vertrauen in eine Person als sichere Informationsquelle.“
In der Psychoanalyse beschäftigen sich Autoren wie Peter Fonagy, einer der Begründer der Mentalisierungstheorie, und Patrick Luyten, Professor für klinische Psychologie an der Universität Leuwen (Belgien), in Zusammenhang mit Mentalisierung auch mit der Frage des epistemischen Vertrauens.
Mentalisieren umfasst „ein Spektrum von Fähigkeiten, einschließlich der Fähigkeit, das eigene Verhalten als kohärent durch mentale Zustände organisiert zu sehen, und sich psychologisch als von anderen unterscheidbar anzuerkennen.“ (Fonagy, Luyten, Attachment, Mentalization, and the Self, 2009; eigene Übersetzung)
Diese Fähigkeit, den Anderen (als Anderen) im Blick zu haben, aber auch sich selbst als „organisiert durch mentale Zustände“ zu betrachten, bildet sich während der Kindheit unter ungünstigen Umständen nicht ausreichend aus (wie bei bestimmten Störungen der Persönlichkeitsentwicklung) oder geht nachträglich vorübergehend verloren, etwa bei starkem, psychischen Stress.
Mentalisieren ist maßgeblich daran beteiligt, wie wir unsere Gefühle und unsere Beziehungen regulieren. Somit führen solche Beeinträchtigungen der Mentalisierungsfähigkeit oft auch zu Vertrauensverlust oder -störungen.
Vertrauen zwischen Menschen, etwa zwischen mir und meinen Patient*innen, entsteht erst dann, wenn ich mich selbst in der Beziehung als „durch mentale Zustände organisiert“ erlebe, um mit Fonagy und Luyten zu sprechen, und mich dadurch auf mich selbst und auf den anderen verlassen kann.
Das heißt, dass ich mir selbst bewusst bin, auch wenn ich mich in einer herausfordernden Situation befinde, und mich als in Beziehung zum anderen stehend erkenne und anerkenne.
Aber wie kann ich nun meine Patient*innen dabei unterstützen, diese Fähigkeit für ihre eigene Lebenssituation zu nutzen oder – wo sie nur unzureichend vorhanden ist – zu entwickeln?
Hier kommt epistemisches Vertrauen ins Spiel.
Ich muss mich als vertrauenswürdige Informationsquelle bewähren. Dabei meint das Wort „Information“ in diesem Zusammenhang nicht nur Information im kognitiven Sinne, sondern vor allem auch ein Wissen als Ausdruck von Wahrnehmungsqualitäten, mit denen wir uns in Begegnungen mit Anderen ein Bild voneinander in der jeweiligen Situation machen.
Das Vertrauen darin, dass der oder die Andere als Quelle des Wissens für uns relevant ist, entwickelt sich letztlich aus der Beziehungserfahrung.
Diese vertrauensbildende Erfahrung bezieht sich
- auf die Quelle der Information und
- auf deren Kontext.
Neue Informationen sind für uns eher glaubwürdig, wenn wir den Kontext als glaubwürdig einschätzen.
Wie entsteht Glaubwürdigkeit in der Psychotherapie?
Wenn ich meinen Patient*innen also vermitteln möchte, dass z.B. das Ziel der Behandlung nicht die Behandlung selbst ist – im Sinne der Abhängigkeit von einem äußeren Gegenüber, das regulierend eingreift und Wissen, Schutz, Zuwendung und Bestätigung zur Verfügung stellt – dann muss ich von Anfang an glaubwürdig vermitteln können, dass ich selbst darauf vertraue, was ich ihnen vermittle.
Ich arbeite so, wie ich glaube, dass es als Beispiel für das Ergebnis der Behandlung auch günstig für meine*n Patient*in ist. Ich nutze dazu meine Präsenz im Hier und Jetzt.
So versuche ich es am Beispiel des Nicht-Mitschreibens noch einmal zu verdeutlichen:
Die Technik des Erinnerns an wichtige Sachverhalte, die ich heute verwende, vertraut auf „den Prozess.“
Ich notiere mir allenfalls nach der Stunde einzelne kurze Skizzen, was jedoch vornehmlich dazu dienen soll, mir ausserhalb der Stunden – also in Abwesenheit meiner Patient*innen – weitere Gedanken darüber zu machen.
Ansonsten bleibe ich während der Stunde aufmerksam in Kontakt mit allem, was sich in der Begegnung ereignet, sei es dass ich etwas Wichtiges erfahre, sei es dass ich etwas „erlebe.“
Was ich für diese Technik benötige?
- Vertrauen in meine Präsenz, sozusagen mit allen Sinnen und meiner ganzen physischen und psychischen Existenz
- Erfahrung darin, meine Aufmerksamkeit zu lenken und damit ganz im Hier und Jetzt zu sein
- Erfahrung im Aushalten von Nicht-Wissen
Währen der Stunden frage ich meine Patient*innen gelegentlich nach Details, die mir entfallen sind. Früher war ich damit zurückhaltender, weil ich glaubte, dass meine Patient*innen dann das Gefühl bekommen könnten, dass ich nicht aufgepasst, nicht zugehört habe, dass ich also abwesend und ganz und gar nicht präsent bin.
Doch es passiert meistens das genaue Gegenteil.
Dadurch, dass ich nicht mitschreibe, erleben mich meine Patient*innen als gegenwärtiger, aufmerksamer und vor allem zugewandter. Das Maß dessen, was mir in den Stunden aus Gesprächen wieder einfällt, die oft schon Monate, wenn nicht Jahre zurückliegen, ist entgegen meinen eigenen, früheren Erwartungen so groß, dass ich mittlerweile völlig darauf vertraue.
Das Arbeiten von „unbewusst“ zu „unbewusst“
Sigmund Freud schreibt in seiner Arbeit „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“ (1912): „Er soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden“ Damit beschreibt er einen Arbeitsstil, der die Basis meiner Vorgehensweise bildet, nämlich die gleichschwebende Aufmerksamkeit. Das ist eine bestimmte Haltung des Zuhörens und Aufnehmens, über die ich bereits verschiedentlich geschrieben habe.
Wenn wir davon ausgehen, dass es ein analytisches Paar im Sinne Freuds gibt, also ein Zusammenspiel unbewusster Kräfte im Hier und Jetzt der Übertragung in der analytischen Situation, aber auch im kreativen Zusammenspiel in der gegenwärtigen Erfahrung, dann ist das Ziel dabei, diese Konstellation zum Nutzen unserer Patient*innen wirksam werden zu lassen.
Dazu braucht es die Zeit, die notwendig ist, damit sich eine vertrauensvolle Beziehung entwickeln kann. Das kann manchmal lange dauern. Bis dahin lernen wir besser, unsere Ungeduld zu zügeln, und ausdauernd darauf zu vertrauen, dass sich etwas so entwickelt, wie es sich entwickeln kann – ohne dass wir den Verlauf kontrollieren könnten.
Aber heißt das, dass wir einfach nur „da zu sein“ brauchen? Wofür benötigen wir dann Ausbildung, theoretisches Wissen, behandlungstechnische Erfahrung, Selbsterfahrung und all das?
Wie steht es um das epistemische Vertrauen des Therapeuten?
Mir bedeutet das „Vertrauen in den Prozess“ sehr viel. Dieses Vertrauen ist jedoch das Ergebnis meiner psychoanalytischen Ausbildung als auch meiner aktuellen Achtsamkeitspraxis, und hier besonders meiner täglichen Meditationspraxis, die ich begleitend zu meiner Arbeit pflege.
Auch wenn ich meistens alleine meditiere, kommt darin die gleiche Verbundenheit zum Ausdruck, mit der ich mich meinen Patient*innen zuwende. Verbundenheit meine ich hierbei in dem Sinne, dass ich mich selbst in der Verbundenheit mit den Menschen „weiß,“ mit denen ich selbst beständig Neues lerne und mich entwickele.
Diese Haltung hat sich im Laufe der Zeit in Beziehungen entwickelt, mit denen ich das gute Beispiel meiner Lehrer*innen verinnerlichen konnte. Heute kann ich im Sinne des epistemischen Vertrauens auch diese verinnerlichten Erfahrungen als „Quelle des Wissens“ wahrnehmen.
Gewiss sind darin auch all die Aspekte früher Bindungs- und Beziehungserfahrungen enthalten, die die Voraussetzungen dafür bilden konnten, dass ich im späteren Leben dann selbst daran weiter gearbeitet habe.
Rückblickend würde ich also im Sinne dessen, worüber ich heute schreibe, sagen, dass die Menschen, die mich in meiner Entwicklung am meisten unterstützt haben, diejenigen sind, zu denen ich am besten epistemisches Vertrauen entwickeln konnte.
So bedeutet mein therapeutisches Handeln letztlich vermutlich, dass ich in der Linie meiner eigenen Entwicklung nun das weitergebe, was ich selbst erfahren habe.
Genauso verhält es sich aktuell mit meiner buddhistischen Praxis. Ich spüre, dass die regelmäßige Meditationspraxis ihre Qualität vor allem aus der Verbundenheit zu den Menschen zieht, von und mit denen ich lerne.
Damit entsteht das, was ich meinen Patient*innen gegenüber als „Selbst-Bewusstsein“ bezeichne:
- die Fähigkeit, zu mentalisieren, d.h. sich selbst als organisiert von mentalen Zuständen zu betrachten (s.o.)
- das Bewusstsein des Bewusstseins, d.h. ein über sich selbst nachdenken und sich selbst wahrnehmen
- das in Beziehungen verbunden sein als wesentlicher Voraussetzung für förderliche Erfahrungen, mit denen wir immer weiter lernen
So steht das Nicht-Mitschreiben hier nur beispielhaft als Ausdruck einer Haltung der Präsenz, mit der ich versuche, meinen Patient:innen das zu vermitteln, was ihnen aus meiner Sicht am meisten helfen wird, sich nach Beendigung der Psychotherapie eigenständig weiterzuentwickeln.
In diesem Sinne: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen