Erfahrungen aus meinem ersten Meditations-Retreat

Was im Weg ist, ist der Weg | Mein erstes Schweige-Retreat – das sind meine Erfahrungen

„Herzlich Willkommen zum Meditations-Retreat. Wo möchtest Du sitzen: auf dem Vulkan oder lieber auf dem Ameisenhaufen?“

Das könnte die Überschrift zu meinem aktuellen Newsletter sein, dachte ich, als ich zu Beginn meines ersten, sechstägigen Schweige-Retreats plötzlich spürte, das hier etwas ganz und gar nicht rund läuft.

So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Klar, dass es bei einem Retreat zum Thema: “Was im Weg ist, ist der Weg” nicht um Wellness und Entspannung gehen würde. Das hatte auch ich nicht erwartet.

Dass die Leiterin und erfahrene Vipassana-Meditationslehrerin Christiane Wolf aus Los Angeles diese Hoffnung gleich zu Beginn noch einmal zerstreute, war es also nicht, was mich überraschte.

Dass es aber direkt am ersten Tag um das Hier und Jetzt in einer so unmittelbaren, überwältigenden Form gehen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

Kaum saß ich in einer entspannten Position auf meinem Meditationskissen, hörte ich schon das Atemgeräusch eines anderen Teilnehmers ganz dicht an meinem Ohr. Dabei saß er in angemessener Entfernung, die trotz der großen Gruppe mit 45 Teilnehmer:innen ohne Probleme möglich war.

Mit geschlossenen Augen und im Schweigen war es jedoch, als säße er mir direkt im Nacken. Und wie ich herausfinden sollte, würde sich meine Sensibilität in den kommenden Tagen noch mehr steigern, als sie in diesem Moment ohnehin schon war.

Ich hätte platzen können. Sofort hatte ich das Bild vor Augen, auf einem Vulkan, dem Funken sprühenden Berg meiner heftigen, aversiven Gefühle zu sitzen.

Warum das denn jetzt? Ganz unvermittelt tauchte ein weiteres Bild auf.

Vor meinem inneren Auge sah ich meinen Vater, der vor gut sieben Jahren nach schwerer Krankheit verstorben war. Er lag in der Klinik und kriegte kaum Luft, atmete schwer – da war es.

Das Atemgeräusch meines Nachbarn hatte mich in meine Lebensgeschichte zurück katapultiert. Mit einem Mal war mir klar, warum ich so heftig auf diesen Klang reagierte. Dieses Problem würde sich also im Hier und Jetzt nicht weg-organisieren oder umgehen lassen.

So kann das gehen. Unvermittelt sah ich mich mit einer Situation konfrontiert, die ich nicht erwartet hatte. Das war nicht mein Plan für das Retreat. Dass es aber nicht immer so läuft, wie wir uns das vorstellen, war dann auch in unserem ersten Dharma-Talk am Abend Thema.

Was im Weg ist, ist der Weg

In den frühen Schriften des Buddhismus, zum Beispiel im Saṃyutta Nikāya, finden sich 5 Hindernisse, die sich einem ruhigen Geist entgegenstellen und auch die Meditation behindern können.

Von diesen Hindernissen sollte unser Retreat handeln:

  1. Haben wollen
  2. Nicht haben wollen
  3. Ruhelosigkeit
  4. Trägheit
  5. Zweifel oder Sorge

Ich war also mitten im Thema dieses Retreats angelangt und konnte mir damit zumindest einreden, dass ich hier also nicht ganz verkehrt war, trotz meiner Überraschung.

Umso mehr erfasste mich dann aber am folgenden Morgen der Strom meiner intensiven Gefühle, als es in der Einführung zum Tag um das Thema “Vertrauen und Zuversicht” ging.

Christiane Wolf schilderte, wie wichtig es zum besseren Verständnis sei, die Haltung des Körpers zu spüren, und dass das Teil unserer Praxis an diesem Tag sein würde.

Dazu verhilft uns der Anker, mit dem wir meditieren. Etwa die Verbundenheit des Körpers mit dem Untergrund, auf dem wir sitzen, das Ein- und Ausatmen, das wir in der Nase, im Brustkorb oder im Bauch spüren können, und auf das wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren.

Wie fühlt es sich an – im Raum, in mir selbst, in der Verbundenheit der Gruppe…

Mit diesen Gedanken stieß ich urplötzlich auf ein Thema, mit dem ich in den vergangenen Wochen oft beschäftigt war. Die elementare Verbundenheit untereinander gründet auf das Vertrauen, dass wir die Probleme, die sich uns entgegenstellen, nicht allein lösen müssen, sondern uns darauf besinnen können, dass wir nicht allein sind mit dem Auf und Ab der inneren und äußeren Bewegungen.

Jetzt wurde mir ein weiterer Teil meiner intensiven Gefühle zugänglich. In einem Gemisch aus Trauer, Zorn und Verzweiflung – und mit einem sich Auflehnen gegen diese Unausweichlichkeit des nachbarlichen Geräuschs, begegnete ich der Unausweichlichkeit des Leidens, mit dem ich auch in meinen Gedanken an meinen todkranken Vater konfrontiert gewesen war, ohne es jedoch bisher in dieser intensiven Form an mich herangelassen zu haben.

Dann also jetzt. Aber es gab auch ein Aufbegehren dagegen. Wie würde das Retreat unter diesen Umständen verlaufen können? Sollte es sein, dass ich mich die ganze Zeit mit diesem unerträglichen Gemisch würde auseinandersetzen müssen?

Ein Gruppengespräch im Anschluss an die Morgenmeditation ermöglichte mir, dieses Durcheinander zu formulieren, und in der Reaktion sowohl der Leiterinnen als auch der Gruppe, die ich als sehr anteilnehmend erlebte, etwas zu sortieren. So ließ sich der so unmittelbare Druck der Wahrnehmung in den ersten Stunden der Meditation am Vortag und am Morgen etwas verteilen.

Auch hierin bestätigte sich, was ich zuvor noch gedacht und erfahren hatte: die Verbundenheit ist der Schlüssel zu Mitgefühl und Gleichmut, beides Grundausstattungen für ein zufriedenes und glückliches Leben.

Zunächst einmal war ich jedoch allein damit schon zufrieden, dass sich diese massiven Eindrücke in etwas einordnen ließen, das sich als “Programm” dieses Retreat verstehen und in Verbindung mit den oben aufgelisteten Hindernissen bringen ließ.

Die fünf geistigen Kräfte

Neben der Auseinandersetzung mit den Widerständen und Gegenkräften dessen, was “im Weg” ist, gab es auch die stärkenden geistigen Kräfte, die in den nachfolgenden Abendvorträgen beschrieben wurden:

  1. Vertrauen
  2. Tatkraft
  3. Achtsamkeit
  4. Sammlung
  5. Weisheit

Christiane Wolf gelang es gut, mit Humor und anschaulich zu beschreiben, was sich unter diesen Kräften verstehen lässt. Dazu werde ich in einer der nächsten Newsletter-Ausgaben noch mehr schreiben.

Mit diesen Kräften fühlte ich mich gut ausgerüstet und ging zuversichtlich in den nächsten Tag der Meditation.

Doch was mich dann erwartete, ließ mich einmal mehr an die Grenzen meiner Geduld geraten.

In einer neuen Runde “akustischer Beunruhigung” in meinem Meditationsumfeld war mein Sinneseindruck gepaart mit der Vorstellung, dass nun das laute Schniefen eines weiteren Nachbarn unvermeidlich zur Folge haben würde, dass ich, der ich in der von mir phantasierten Viren-Einflugschneise sitzen musste, erkranken und den Rest des Retreats ebenfalls erkältet verbringen müsse.

Sollte ich das Retreat abbrechen? Das hatte ich schon im Vorfeld (bis auf Notfälle) ausgeschlossen. Mich anderswo hinsetzen? Dann würde jemand anderes sich an meine Stelle setzen müssen und das gleiche Schicksal ereilen. Das widersprach meiner persönlichen Ethik.

Also ausharren?

Langsam näherte ich mich wieder der bereits vertrauteren Haltung während der Meditation, sich demgegenüber zu öffnen, was es wahrzunehmen gibt, es auf einer körperlichen Ebene zu spüren, und das Gefühl von den Gedanken getrennt zu betrachten, so gut es geht. So versuchte ich, den vier Grundlagen der Vipassana-Meditation zu folgen und die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu lenken.

Schwierig war es dabei, sich vom Strom der Gedanken nicht mitreißen zu lassen wie vom Gewirbel der Ameisen in einem riesigen Haufen, auf dem ich nun zwischenzeitlich in Abwechslung zu meinem Vulkan sitzen „durfte.“

So schien es mir wenigstens gelegentlich leichter zu fallen, auszuharren, es sarkastisch gesagt “auszusitzen” und mich damit meinem Schicksal zu ergeben.

Dann kam mir eine Idee:

Warum sollte ich nicht “einfach mal” versuchen, alle Anker zu lösen, mich fallenzulassen, um auszuprobieren was passiert, wenn ich in das Vertrauen hinein spüren würde, das ich bereits am Vortag wahrgenommen hatte?

Da mein Anker, das Atmen, von dem mich so verstörenden Atmen meiner Nachbarn immer wieder “durchkreuzt” worden war, probierte ich also das aus, was mir nach dieser ersten Erfahrung hilfreich schien, und öffnete mein Wahrnehmungsfeld noch weiter.

Was soll ich sagen: es funktionierte.

Irgendwann bemerkte ich, dass ich schon eine Weile nicht mehr daran gedacht hatte, wann wohl der nächste, deutlich vernehmbare Atemzug meiner Nachbarn zu hören sein würde.

Es war – einfach weg.

Damit bewahrheitete sich etwas, das ich zuvor zwar immer gedacht, aber bis dahin noch nie selbst erfahren hatte.

In der Meditation gelang es, die Gefühle und Gedanken kommen und gehen zu lassen, ohne sie daran festzuhalten, sie zu bewerten und ihnen zu folgen.

Das also war es, was im Buddhismus als Gleichmut bezeichnet wird.

Ich erfuhr darin eine Gelassenheit, mit der das Wahrnehmen des Hier und Jetzt in der Vertiefung der Meditationserfahrung durch das Retreat möglich wurde. Durch den steten Rhythmus von Sitz- und Geh-Meditation über den Tag verteilt, und durch das Schweigen fand ich einen leichteren Zugang zu dieser offenen Haltung.

Mein Fazit

Was war also mein “Juwel,” den ich aus diesem Retreat mitnehmen konnte? Das war eine der Fragen in den letzten Stunden des Beisammenseins, als das sogenannte edle Schweigen aufgehoben worden war, und wir im großen Kreis der Teilnehmenden von unseren Erfahrungen sprachen.

Sicherlich war die geschilderte, so eindrückliche Erfahrung ganz wesentlich für mein positives Fazit aus diesem ersten Schweige-Retreat. Aber so bemerkenswert dieses Geschehen auch war, eigentlich bewegte mich die zwischenzeitlich spürbare Verbundenheit im Vertrauen auf die Anwesenheit der Anderen in unserer “Sangha auf Zeit” am meisten.

Diese erste der fünf Kräfte bildete den haltenden Rahmen für meine persönlichen Erforschung des Geistes, mit der ich mich abwechselnd auf einem Vulkan oder einem Ameisenhaufen sitzend erlebte – bis ich mich öffnen und mehr Gelassenheit entwickeln konnte.

Rückblickend glaube ich, dass also diese Verbundenheit und das gegenseitige Vertrauen das eigentliche Juwel meiner Retreat-Erfahrung ist.

So konnte ich mich in der abschließenden „Berg-Meditation“ mit einer deutlich ruhigeren Ausrichtung auf das innere Erleben gut konzentrieren und wieder Anschluss an das Atmen als zentralem Anker meiner Meditation finden.

Rückblickend bin ich sehr zufrieden mit meinem ersten Meditations-Retreat. Ich habe mich in der Obhut der drei Leiterinnen sehr gut aufgehoben gefühlt, um mich in so intensiver Weise auf die Vertiefung meiner Meditationserfahrung einlassen zu können. Das gemeinsame Schweigen hat dabei die Sinne für Reize geöffnet, die sonst nicht in vergleichbarer Intensität spürbar geworden wären.

Am Ende der sechstägigen Schweigezeit hätte ich mir vorstellen können, das Retreat noch um einige Tage zu verlängern, wenn das möglich gewesen wäre. Ich habe mir sagen lassen, dass jedes Retreat wieder andere Erlebnisse mit sich bringt, und bin gespannt darauf.

In der Abschlussrunde fiel mir ein Zitat ein, das gut zu meinem Empfinden in der Gruppe passt, mit der ich diese Erfahrungen teilen durfte:

Der nächste Buddha ist eine Sangha.

Thich Nhat Hanh

Eine Woche später – während ich diesen Newsletter schreibe, geht es jetzt vor allem um die Integration der Erfahrungen aus der intensiven Retreat-Zeit. Darüber werde ich nach einiger Zeit berichten.

Was hat Ihnen, wenn Sie bereits eigene Erfahrungen mit Retreats haben, dabei geholfen, zurück in den Alltag zu finden und etwas mitzunehmen? Was war Ihr „Juwel?“

Ich freue mich, wenn Sie mir von Ihren Eindrücken und Erlebnissen berichten.

Und jetzt: in die Praxis.

Herzliche Grüße aus Wuppertal,

Sönke Behnsen

Praxis der Präsenz

Erhalten Sie alle zwei Wochen meine Erfahrungsberichte, thematischen Vertiefungen und Buch-Empfehlungen aus meiner Achtsamkeitspraxis als Psychotherapeut und Psychoanalytiker.

    Sie können sich jederzeit wieder abmelden.

    3 Gedanken zu „Erfahrungen aus meinem ersten Meditations-Retreat“

    Schreiben Sie einen Kommentar

    Index