Was bedeutet für mich „Praxis der Präsenz?“

Newsletter #17 vom 29.03.2025

Für die heutige Ausgabe meines Newsletter habe ich darüber nachgedacht, wie ich Ihnen etwas über den Kontext, über die Hintergründe meiner „Welt der Präsenz“ nahe bringen kann.

Meine Idee dabei ist, dass manche Perspektiven meiner Überlegungen sich besser nachvollziehen lassen, wenn sie sich in einen Kontext stellen.

Mit dieser Newsletter-Ausgabe möchte ich also so etwas wie einen größeren Überblick schaffen, in der Hoffnung, dass sich die eine oder andere Idee, die Sie dabei finden werden, so in einen sinnvollen Kontext einordnen lässt.

Über eine Rückmeldung, eine Resonanz auf meine Gedanken freue ich mich wie immer!


Alles ändert sich, wenn ich präsent bin.

Von Anfang an entsteht eine intensivere Atmosphäre. Ich bin zugewandt und offen. Wirklich anwesend im Gespräch mit meinen Patient:innen oder Kolleg:innen.

Ich höre zu. Frage nach. Denke mit.

Fokussiert und aufmerksam.

Achtsam nehme ich in mir und um mich herum wahr, was geschieht. Schweigen oder Sprechen ist gleichermaßen aufschlussreich. Auch wenn nichts passiert, spüre ich und nehme wahr. Es ist Ausdruck einer Selbstzurücknahme, die den Anderen in den Mittelpunkt meiner Wahrnehmung rückt, auch wenn ich mich dabei mit einbeziehe.

Das gelingt nicht immer so. Dann kann ich meine Aufmerksamkeit nicht wach halten. Meine Wahrnehmung schweift ab, ich lasse mich ablenken oder hänge meinen Gedanken nach.

Mit der Zeit lerne ich, auch das wahrzunehmen und nicht zu unterbinden. „An der nächsten Auffahrt“ gelange ich wieder in den Kontakt mit mir selbst und meinem Gegenüber.

Vor Ort sein. Präsent sein. Im Hier und Jetzt, gegenwärtig.

Danach suche ich als Arzt, Psychotherapeut und Supervisor.

Aber auch als Mitmensch: mehr und mehr in der Gegenwart zu sein, statt über die Vergangenheit nachzugrübeln oder die Zukunft zu planen.

Ich nenne das „Praxis der Präsenz“.

Damit meine ich eine Haltung, die nicht „ein für allemal“ existiert, sondern immer wieder neu eingenommen werden will.

Lernen durch Erfahrung

Meditation und tiefes Schauen, wie der Zen-Meister Thich Nhat Hanh es übersetzt, sind für mich sehr wertvolle Übungen, um mein Bewusstsein zu schulen.

Kontemplatives Lernen bedient sich eines anderen Denkmodus‘ als dem des Problemlösens. Letzteres ist gut geeignet für krisenhafte Zuspitzungen oder Notwendigkeiten im Sinne des „Wendens einer Not.“ Kontemplation lässt achtsames Engagement entstehen.

Wenn’s schnell gehen muss, ist die kürzeste Entfernung zwischen A und B meist der beste Weg.

In fast allen anderen Fällen punktet nicht der linear-kausale Zusammenhang, sondern die Qualität des achtsamen Engagements. Das folgt dem Prinzip der Emergenz. Da entsteht etwas Bedeutsames aus definierten Vorbedingungen, ohne dass es sich vorhersagen ließe, aber in einer folgerichtigen Art und Weise.

So arbeite ich mit meinen Patient*innen und Analysand*innen als Psychoanalytiker, wenn ich in den Zustand gleichschwebender Aufmerksamkeit gelange. Auch das bezeichnet eine Haltung, die von der Präsenz geprägt ist, dem vor Ort sein.

Meine Bemühungen sind oft nicht von einem (ohnehin nur als Ausdruck einer die Vergangenheit extrapolierenden Vorhersage verstehbaren) Ergebnisses her definiert, sondern der Ausdruck eines Prozesses.

Das erzeugt Flexibilität und schafft zugleich Unsicherheit, mit der ich umgehen lernen muss.

Die Voraussetzung dafür muss immer wieder hergestellt, neu geschaffen werden. Manchmal scheitert das an der unzureichenden Mentalisierungsfähigkeit.

Manchmal liegt es auch an der fehlenden Wachheit, dass sich kein Zustand eines eher träumerischen Denkens einstellen will, der diese Form der offenen Aufmerksamkeit oft charakterisiert.

Manchmal ist auch das Grübeln im Weg, das die Gedanken immer wieder um den gleichen Punkt kreisen lässt. Dann strenge ich mich zu sehr an, will klug sein, zu hilfsbereit oder geistreich.

Das kann für mich gelten, aber auch für meine Patient*innen, Analysand*innen oder Supervisand*innen.

Achtsamkeit und gleichschwebende Aufmerksamkeit fokussieren beide auf Wahrnehmung „von dem, was ist.“ Darum ist es mir so wichtig, günstige Voraussetzungen dafür zu schaffen, um präsent zu sein im Augenblick.

Buddhistische Praxis und Tiefenpsychologie

Wenn ich in meinem Newsletter über Themen wie das Zuhören, die negative Fähigkeit oder die Haltung des Nicht-Wissens nachdenke, dann weil mich diese Stichworte seit dem Beginn meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker vor 17 Jahren immer wieder beschäftigen. Sie beschreiben etwas, das einen zentralen Aspekt meiner Haltung darstellt.

Und sie sind Teil meiner Achtsamkeitspraxis als Psychoanalytiker, über die ich hier berichte.

Mit meiner zunehmenden Neugier für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Psychoanalyse und buddhistischer Psychologie sowie meine seit drei Jahren regelmäßige, meditative Praxis entstehen immer neue Fragen, auf die ich Antworten im Gespräch, in der Meditation und im Literaturstudium suche.

  • Wie lassen sich Achtsamkeitstechniken mit der Arbeit eines Tiefenpsychologen oder Psychoanalytikers verbinden?
  • Welchen Gewinn erbringt das Konzept des Nicht-Selbst für die narzisstischen Störungen meiner Patient*innen, die immer wieder um ihr eigenes, geschwächtes Selbst kreisen, statt sich für die Begegnung mit anderen öffnen zu können?

Ich schreibe mit wenigen Ausnahmen täglich ca. eine Stunde – bewusst unproduktiv, weil eher meditativ, sprunghaft und assoziativ. Kurz nach dem Aufstehen, noch nahe dem Traumbewusstsein.

Damit bilde ich die „Kette für die Schussfäden“ des Tages. Oft kehre ich in Gedanken mehrmals am Tag zu diesen Morgenseiten zurück und notiere mir Verbindungen zwischen den Themen meiner Behandlungsstunden und Supervisionen sowie meinen eher assoziativen Gedanken am Morgen.

Manche Tage sind dann geprägt von der Recherche nach theoretischen Hintergründen, die meine Hypothesen zu konkreten Behandlungsfragen untermauern oder in Frage stellen können.

Im Austausch mit Kolleg*innen oder durch die Lektüre von Fachliteratur entwickeln sich neue Zusammenhänge und Ideen. Oder ich meditiere unbewusst über ein Motiv, das mir nicht aus dem Kopf gehen will, bis sich neue Fäden bilden, die einschießen und sich dann verknüpfen lassen mit der Webarbeit meines Arbeitstages.

Wahrnehmen und Spüren

Meine Grundausbildung in psychosomatischer Medizin während meines Universitätsstudiums genoss ich u.a. in der Gesprächen in der Bibliothek des psychosomatischen Lehrstuhls der Universität zu Köln. Hier lernte ich von dem mittlerweile verstorbenen Professor Karl Köhle und seinen Mitarbeiter*innen zentrale Zusammenhänge von Leib und Seele in der Entstehung von Gesundheit und Krankheit kennen.

Prof. Köhle schrieb zusammen mit Prof. Thure von Uexküll ein Lehrbuch zur psychosozialen Kompetenz in der Primärversorgung durch Hausärzt*innen und zum Paradigmenwechsel in der Humanmedizin nach dem biopsychosozialen Modell.

Heute lässt sich dieses neue Paradigma der Psychosomatik nicht mehr wegdenken, aber es ist immer noch nicht mehr als eine Teildisziplin in der Medizin, statt – wie damals erhofft – das Leitmodell der Humanmedizin geworden.

Für eine gesündere Welt

In der Weltmedizin (Grönemeyer 2018) finden sich viele Stichworte dieser alten Ganzheit der Medizin wieder, die auch in meinem Kopf immer noch präsent sind, auch wenn ich seit 2008 nicht mehr aktiv hausärztlich tätig bin.

Die Wurzeln der verschiedenen traditionellen Heilmethoden ziehen ihre Kraft oft aus spirituellen Quellen. Dabei spielt das Gespräch, der direkte Kontakt mit dem Körper der Patient:innen und das Wahrnehmen mit allen Sinnen eine ganz zentrale Rolle sowohl in der Diagnostik als auch im therapeutischen Prozess.

Die dualistische Betrachtungsweise hat viel zur Perfektionierung moderner Heilmethoden beigetragen, aber auch zur Entfremdung in der Medizin beigetragen.

„Praxis der Präsenz“ steht für mich hierbei auch für eine Form der Präsenz, die sich auf die körperlich-seelischen Zusammenhänge besinnt und die Gegenwart auch als Interdependenz versteht mit den Ökosystemen und Lebenszusammenhängen der Welt, in der wir leben.

Vor Ort sein als aktive Präsenz und engagiertes Handeln

Soziale Gerechtigkeit ist heilsam. Soziale Ungerechtigkeit macht krank. Zusammensein und Gemeinsinn schaffen die Voraussetzungen für die Bewältigung persönlicher, aber auch gesellschaftlicher und globaler Krisen.

Eine Wirtschaftsordnung, die auf der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen gründet, zerstört die Diversität der menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen.

Damit verlieren wir unser zentrales Potential des Zusammenlebens und zerstören die Grundlagen des Überlebens der Menschheit und der Natur, mit der wir untrennbar verbunden sind.

Nicht wegzuschauen, sondern Menschen beizustehen, die Natur zu bewahren und Ungerechtigkeit zu benennen, aktiv Zeugnis abzulegen und Missstände zu beheben statt nur deren Opfer zu behandeln, das ist für mich ein Kern meiner Haltung als Arzt, Psychotherapeut, Supervisor und Mensch.

Für eine andere Medizin, eine gesündere Welt, für engagiertes Handeln „vor Ort“

In diesen drei Bereichen spiegelt sich eine Haltung gegenüber dem „in der Welt sein,“ die für mich Teil meiner Präsenz-Praxis ist.
Nur so kann ich mir meine berufliche Arbeit als Teil meines ethischen Handelns vorstellen.

Und jetzt: in die Praxis.

Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen

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