Vier Schritte zu einem neuen Verständnis von Mitgefühl.
Newsletter #7 vom 09.11.2024
In meinem heutigen Newsletter möchte ich Ihnen aus gegebenem Anlass beschreiben, wie Sie selbst in widrigen Umständen Ihr Mitgefühl nicht verlieren, sondern es zukünftig als kraftvolles Mittel zum besseren Verständnis auch schwieriger Patient*innen, Kolleg*innen oder Politiker*innen 😉 einsetzen werden.
Es ist so viel leichter, mitfühlend
- durch einen anstrengenden Arbeitstag zu kommen
- schwierigen Menschen zu begegnen
- in unsicheren Zeiten angesichts der widrigen Umstände nicht zu verzweifeln
- den/die eigene*n, innere*n Kritiker*in für sich zu gewinnen.
Unglücklicherweise scheitern so viele Menschen daran, diese Haltung ausreichend zu kultivieren, um ihr ganzes Potential zu spüren. Das gilt insbesondere für Fachkräfte im Gesundheitswesen.
Warum?
Mitgefühl hat in vielen Bereichen des Gesundheitswesens immer noch einen schlechten Ruf
Für Viele haben die Mahnungen alter Schule immer noch viel Gewicht:
- „Mitgefühl ist ein Ausdruck falsch verstandener Nähe zu den Patient:innen.“
- „Mitgefühl verstellt den diagnostischen Blick und vernebele die Urteilsfähigkeit.“
- „Mitfühlende Mitarbeiter*innen brennen schneller aus und bringen nicht die volle Leistung.“
- „Mitgefühl gegenüber Täter*innen oder Schuldigen ist ein Zeichen falscher Solidarität und Zustimmung.“
Zum Glück belegen die Erfahrungen mit achtsamem Mitgefühl heute das genaue Gegenteil.
Alle diese Bedenken oder Argumente beinhalten Vorurteile, die sich entkräften und ins Gegenteil wenden lassen.
Schritt 1: Mitgefühl bildet eine belastbare Grundlage für gelingende Zusammenarbeit mit Ihren Patient*innen, und für ein gutes Behandlungsergebnis
Verstanden werden kommt vor Verstehen!
Und hierbei geht es nicht um den rein kognitiven Prozess des Erfassens einer Situation, in der sich Ihr*e Patient*in befindet, sondern um den sensiblen Vorgang des sich Einfühlens, um dessen Leid in seiner Vielschichtigkeit erkennen und in seinen Auswirkungen analysieren zu können.
Nur so lassen sich belastbare und tragfähige Entscheidungen treffen und angemessene Handlungen ergreifen.
Dazu ist ein emotionaler Kontakt erforderlich. Präsenz ist „Wache Gegenwart in Aktion.“
Hierbei ist es jedoch notwendig, sich auch ein Bild von der eigenen Verfassung zu machen. Mitgefühl setzt Selbst-Mitgefühl voraus:
- Bin ich im Moment in der Lage, dem/der Anderen meine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden? Oder bin ich zu müde, ausgelaugt, unkonzentriert?
- Habe ich Zeit und Ressourcen, diese Voraussetzungen wirklich einzubringen?
Hier ein Tipp: Sammeln Sie sich zunächst so gut es geht, und sei es nur für ein paar Atemzüge. Fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit und kommen Sie in Kontakt mit Ihrem eigenen Empfinden. Spüren Sie, wie es um Ihre eigene Verfassung steht.
Ohne mit sich selbst in Kontakt zu sein, können Sie nicht wirklich präsent sein.
Manchmal hilft es alleine schon, sich der eigenen Intention zu vergegenwärtigen, sich aufmerksam dem/der Anderen zuzuwenden, und Ihre ursprüngliche Wachheit ist wieder hergestellt.
Wenn nicht – seien Sie ehrlich zu sich und zu Ihrem Gegenüber. Transparenz bildet einen Vertrauensvorschuss, auf den Sie beim nächsten Kontakt aufbauen können. Damit können Sie Ihre:n Patient:in oft wirklich überraschen.
Sie werden erstaunt sein, wie positiv die Reaktion Ihres Gegenübers ist.
Und wenn Ihr kleiner Selbst-Checkup positiv ausfällt, geht es weiter mit Schritt Nummer Zwei.
Schritt Zwei: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Wahrnehmung
Falsch verstandenes Mitgefühl erschöpft Sie und Ihr Gegenüber gleichermaßen. Es geht nicht um Mitleid, Beruhigung, Abwiegeln oder Ablenkung („es ist gar nicht schlimm/tut gar nicht weh“).
Aus einer mitfühlenden Haltung heraus wahrzunehmen heißt, dass Sie alle Ihre Sinne auf das richten, was im Hier und Jetzt sichtbar, hörbar, riechbar, spürbar… ist.
Nur mit allen Sinnen können Sie sich ein zutreffendes Urteil bilden. Das gelingt aus der Haltung des achtsamen Mitgefühls.
Dabei spielt der Blick nach aussen UND nach innen eine kritische Rolle. Wenn wir eine angemessene Entscheidung treffen wollen, sind wir auf eine möglichst vollständige Bestandsaufnahme des Hier und Jetzt angewiesen.
Wenn Sie zum Beispiel bemerken, dass Ihr*e Patient*in den Tränen nah ist, die zur Verfügung stehende Zeit jedoch fast vorüber ist, nehmen Sie wahr, ob Sie selbst dadurch unter Druck geraten und den Impuls verspüren, beruhigend/abwiegelnd zu intervenieren.
Versuchen Sie stattdessen, so gut es Ihnen selbst in diesem Moment gelingt, Ihren Atem einzusetzen. Seufzen oder zustimmendes Summen hat z.B. einen erleichternden Effekt auf Sie selbst – und auf Ihr Gegenüber.
Mit einer mitfühlenden Äußerung („Ich spüre, dass Sie den Tränen nah sind“) bieten Sie anschließend an, angesichts der begrenzten Zeit zu überlegen, was Ihrem Gegenüber in der jetzigen Situation dabei helfen könnte, dieses Gefühl nicht zu unterdrücken, auch wenn Sie sich bald verabschieden müssen:
- Vielleicht braucht es noch ein zeitnahes, zweites Zusammentreffen?
- Vielleicht kommt Ihnen gemeinsam die Idee, sich ein oder zwei Gedanken dazu zu notieren, und darin das aufkommende Gefühl festhalten und so wertschätzen zu können?
Dann gelingt es besser, die Berührung als Teil einer realistischen Einschätzung der wahrgenommenen Nähe zu benennen, und so über nächste, notwendige Schritte sprechen zu können.
Nur so gelangen Sie zu einem realistischen Urteil, das auch die emotionale Seite der Interaktion anerkennt.
Schritt 3: Vergegenwärtigen Sie sich Ihre Verbundenheit als Potential einer starken Gemeinschaft
Was schützt uns am besten vor Ausbrennen?
Wir vergegenwärtigen uns, dass wir nicht alleine verantwortlich sind, sondern Teil einer Gemeinschaft von zumindest zwei Menschen, die miteinander leidvolle Erfahrungen zu bewältigen versuchen.
Das Leid Ihres Gegenübers ist nicht Ihr eigenes Leid – diese Unterscheidung ist extrem wichtig.
Auch wenn Sie Ihre empathischen Fähigkeiten benötigen, ist es genauso notwendig anzuerkennen, dass der/die Andere das Subjekt seines eigenen Geschicks, nicht das Objekt Ihres Bemühens ist, das Ihnen gegenüber sitzt.
Das ist Empowerment ohne „Tschakka“ und falsch verstandene, positive Psychologie.
Diese Kraft lässt sich aber nur entfalten, wenn es miteinander gelingt, statt empathischem Stress mitfühlende Bestärkung zu entwickeln.
Und was ist, wenn Ihr Gegenüber bekräftigt, ganz allein zu sein, sich auf niemand verlassen zu können und in seiner/ihrer Einsamkeit unterzugehen?
Gerade jetzt entfaltet achtsames Mitgefühl sein ganzes Potential. Womöglich schöpft Ihr*e Patient*in gerade Hoffnung, in Ihnen den ersten Menschen getroffen zu haben, der/die wirklich helfen kann, und bedient sich alter, manipulativer Mittel, um sie nicht mehr loslassen zu müssen.
Jetzt ist es existentiell wichtig, genau wahrzunehmen. Vermutlich entsteht in Ihnen sofort der Impuls, sich abzugrenzen und zu schützen. Das ist verständlich, aber mit der Gefahr verbunden, das Vertrauen in die Kraft des Mitgefühls zu verlieren.
Hier hilft nach meiner langjährigen Erfahrung, diese mögliche Angst als Ausdruck einer nachvollziehbaren Not anzusprechen und dadurch erneut getreu dem Motto zu handeln:
„Verstanden werden kommt vor Verstehen.“
Umso schwerer ist es mitunter, sich selbst und damit den eigenen Impuls anzuerkennen, und geduldig dazu zurückzukehren, die gemeinsame Verantwortung anzusprechen und anzubieten, zusammen zu überlegen, was der/die andere als nächstes tun kann, damit die so entstandene Verbundenheit auch nach Beendigung des Gesprächs noch weiter spürbar bleiben und sich sogar intensivieren kann.
Doch auch hier ein guter Rat: Seien Sie aufrichtig.
Falsche Versprechungen wird Ihr*e Patient*in sofort erkennen. Viel überzeugender wirkt in Fällen, in denen Sie nicht weiter wissen, wenn Sie Ihre Bereitschaft signalisieren, im Nachgang noch einmal über das Besprochene und Ihre Eindrücke nachzudenken und zu überlegen, was Sie im Weiteren beisteuern können.
Und falls es sich um einen einmaligen Kontakt handelt, machen Sie sich bewusst:
Transparenz ist die Voraussetzung für Präsenz, und Präsenz erzeugt Resonanz – das zentrale Prinzip jeder wirksamen Psychotherapie.
Das letzte Mittel ist: bekennen Sie sich zu Ihrer Ohnmacht, und bezeugen Sie diese mit Ihrem aufrichtigen Bedauern. Wenn Sie ratlos sind, ist es besonders schwer, mitfühlend (auch mit sich selbst!) zu sein.
Gleichwohl ist das der Königinnenweg, Ihren vollen Einsatz zu bringen und trotzdem nicht auszubrennen. So gelingt es Ihnen mit etwas Training, auch mitfühlend mit Täter:innen zu arbeiten.
Damit kommen wir zum letzten Schritt in einer so schwierigen Konstellation.
Schritt 4: Differenzieren Sie zwischen Täter*in und Tat.
Achtsames Mitgefühl bedeutet nicht, vorbehaltlos zuzustimmen, wenn Sie z.B. erkennen, dass das Verhalten Ihres Gegenübers manipulativ oder übergriffig zu werden droht.
Gelingt es Ihnen, das zu erkennen, kann Ihr Mitgefühl im Gegenteil eine gute Voraussetzung dafür bilden, dieses Verhalten zu benennen und in den Kontext eines dahinter verborgenen Leids zu stellen.
Das ermöglicht es Ihnen, den Zugang zur Not des Anderen offenzuhalten.
Dazu ist es jedoch notwendig, zwischen dem beschreibbaren Verhalten und Ihrem Gegenüber zu unterscheiden.
Versuchen Sie einmal, sich in die Not des/der Anderen hineinzuversetzen. Ihr*e Patient*in spürt Ihre Zugewandtheit, und droht jetzt, zum Ende Ihrer Begegnung, wieder in die zuvor allein ertragene Situation zurückzufallen. Es geschieht nicht allzu selten, dass jemand, der oder die diese Erfahrung so zum ersten Mal macht (welch bedeutsames Ereignis!) nun versucht, Sie festzuhalten, sich festzuklammern, ja Sie unter Druck zu setzen.
Viele Menschen, vor allem solche, die schlechte Erfahrungen in bedeutsamen Beziehungen gemacht haben, bedienen sich dabei dysfunktionaler Mittel, die Sie nun zu spüren bekommen können.
Doch auch hier kann das Mitgefühl Ihnen dazu verhelfen, selbst handlungsfähig zu bleiben und zugleich noch hilfreich – selbst in so extremen Situationen wie in der Arbeit mit Straftäter*innen, die sich ganz tief in Verstrickungen mit oft für Sie alleine ausweglosen Situationen verfangen haben.
Meine Erfahrung: hier hilft, laut zu denken. Vielleicht so?
„Wenn ich mich in Ihre Situation hineinversetze, meine ich, eine Beunruhigung bei Ihnen darüber zu spüren, sich jetzt in einem solchen Moment zu verabschieden. Sie wirken misstrauisch. Doch woher sollten Sie auch das Vertrauen nehmen, dass ich wirklich ehrlich bin? Ihre bisherigen Erfahrungen scheinen dem zu widersprechen, so dass Sie versuchen, mich aus dieser Not heraus festzuhalten (zu überreden etc.).
Und doch wird unsere heutige Begegnung nur dann wirklich eine neue Chance sein, wenn wir es riskieren und uns gegenseitig zutrauen, es ernst zu meinen mit dem, was wir jetzt verabredet haben/verabreden werden.“
___________________________________________________________
Wenn Sie sich so durch diese vier Schritte in Richtung eines neuens Verständnisses von Mitgefühl bewegen, oder vielleicht längst schon für sich erkannt haben, wie wertvoll eine mitfühlende Haltung für Ihren Arbeitsalltag ist, freue ich mich, wenn Sie mir über Ihre Erfahrungen berichten.
Und jetzt: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen