Newsletter #19 vom 10.05.2025
Für viele Menschen spielt der Begriff des Selbst in Zusammenhang mit der Frage nach dem eigenen Wert eine zentrale Rolle.
Wer davon träumt, endlich zu sich selbst zu kommen, weil er nur die ganze Zeit damit beschäftigt ist, sich um die Erwartungen anderer zu kümmern, folgt der Vorstellung, dass das Selbst in Konkurrenz zum Anderen steht.
Das ist eine der Kernaussagen des umgangssprachlichen Begriffs des Selbst.
Wer sich selbst verwirklichen möchte, beschreibt damit nicht selten etwas, das uns mit zwiespältigen Gefühlen konfrontiert. Das „Ich“ steckt hier als „Ego“ mit dem Zusatz „-ismus“ ganz zentral im sprachlichen Ausdruck einer moralisch für Viele fragwürdigen Schlussfolgerung aus einer leidvollen Erfahrung, mit den eigenen Bedürfnissen im Leben zu kurz zu kommen.
In meiner Achtsamkeitspraxis nehme ich bewusster wahr, wie eng verwoben die Leistungsansprüche, die wir an uns selbst stellen, oder vor die wir uns im Arbeits- und Privatleben gestellt sehen, mit meinem Selbstbild sind.
In Berichten mancher Patient*innen höre ich von ähnlichen Erfahrungen.
Bedauerlicherweise geht dann die Vorstellung der Selbstverwirklichung in diesem Kontext manchmal auf Kosten der Bedürfnisse anderer:
Entweder – oder.
Das hat besonders dann weit reichende Folgen, wenn daraus im Laufe der Zeit eine Tendenz zur Selbstisolation entsteht („ich denk jetzt endlich mal nur an mich, nicht mehr immer nur an die anderen“) und der Grad der Individualität zum zentralen Maß für Freiheit und Wohlbefinden wird. Diese Bewertung findet dann hauptsächlich durch Vergleiche und Unterscheidungen statt. Dabei geht es um Einzigartigkeit, Exklusivität, ein oft von Neid und Missgunst geprägtes Bild der Verteilung von Wohlstand und Teilhabe.
In meiner Praxis spreche ich mit Patient*innen, die sich allein und einsam fühlen, was insbesondere in der Bewältigung leidvoller Erfahrungen nur schwer auszuhalten ist.
Begleitet wird dieses Gefühl oft von der Vorstellung, auch mit der eigenen Erkrankung ganz persönlich getroffen zu sein („Warum gerade ich?“) und sich dadurch noch isolierter und einsamer zu fühlen.
Mit Hilfe der buddhistischen Lehre vom Selbst lässt sich diese leidvolle Entwicklung der Vereinzelung mit ihren Folgen sehr präzise beschreiben.
Es handelt sich dabei jedoch um eine der oft missverstandenen Lehren der buddhistischen Psychologie, der Lehre von Anatta, Nicht-Selbst oder Kein-Selbst.
Nun möchte ich nicht behaupten, dass ich dieses Konzept bereits „richtig“ verstanden hätte. Mein Newsletter firmiert ja unter der Überschrift „Berichte aus der Achtsamkeitspraxis eines Analytikers,“ was für mich heißt, dass die Gedanken, über die ich hier schreibe, Ausdruck einer Praxis sind, eines eigenen Bemühens darum, die Bedeutung dessen, was ich gerade studiere, zu ergründen, ein „work in progress“ also.
Dennoch will ich mich hier an eine kurze Interpretation wagen, weil ich die Auseinandersetzung mit dem Thema des „Selbst“ sowohl als Psychoanalytiker als auch als Buddhist für die psychotherapeutische Arbeit wie für die persönliche Praxis als sehr bereichernd empfinde.
Warum beschäftigte sich der Buddha mit der Frage des Selbst?
In den alten Schriften, die ich dazu gelesen habe, dreht sich die Lehre des Buddha immer wieder um die beiden folgenden Fragen
„Was verursacht Leiden?“
„Wie lässt sich Leiden überwinden?“
Eine zentrale Auffassung im Buddhismus ist, dass Leiden dadurch entsteht, dass wir uns über die Getrenntheit von Anderen und der uns umgebenden Welt definieren, und dass wir genaue Vorstellungen davon haben, was uns als „Ich“ ausmacht, welche Voraussetzungen erforderlich sind, damit wir glücklich, zufrieden, gesund und „wir selbst“ sind.
In den Texten dazu wird in diesem Zusammenhang auch vom Verlangen gesprochen, einem Phänomen, das wir heute vielleicht als „Craving“ bezeichnen würden und so als Begriff aus der Suchtmedizin kennen, sowie von dessen Gegenteil, der Aversion, also dem Ablehnen unangenehmer Zustände und dem Versuch, diese zu vermeiden.
Je genauere Vorstellungen wir davon haben, was wir brauchen, um uns wohl zu fühlen, und je abhängiger wir uns davon fühlen, diese Umstände herbeizuführen, desto unflexibler sind wir, sobald wir uns damit zurecht finden müssen, dass diese Umstände nicht gegeben sind, vergänglich oder unvollständig sind.
Allein das genügt schon, um uns einiges Leid zu bereiten.
In der Psychoanalyse kennen wir das Konzept des Selbst als Ausdruck dessen, was uns als Menschen in unserem je eigenen Leben mit unseren Erfahrungen, der Besonderheit unserer Lebensumstände und unseren Beziehungen zu den uns umgebenden Menschen und unserer Umwelt, als Individuum wie als Mitglied einer Gemeinschaft, kennzeichnet.
Wir sprechen von Selbstgefühl, von Selbstwert, von Selbstbewusstsein, wenn wir bestimmte Aspekte dieses Selbst abgrenzen und untersuchen wollen.
Einerseits deutet sich hierbei schon an, dass es so etwas wie ein separates, in sich unabhängiges und von allen Beziehungen und Abhängigkeiten zu anderen freies Selbst nicht gibt, zugleich kennen wir aus dem Alltag unserer therapeutischen Praxis aber auch eine Vielzahl von Themen, mit denen unsere Patient:innen sich auseinandersetzen, die mit genau dem Bemühen um diese Abgrenzung, Unterscheidung und Eigenständigkeit zu tun haben.
Der Gedanke des separaten Selbst und seine Auswirkungen auf unser Wohlbefinden
In vielen Lehrreden, die dem Buddha zugeschrieben werden, dreht sich das Gespräch um die Frage, ob es ein Selbst gibt. Manche zeitgenössischen Autor*innen kommen in ihrer Interpretation dieser Lehrreden zu der Auffassung, dass wir uns darauf konzentrieren sollten, was es mit dem sogenannten „separaten Selbst“ auf sich hat.
Ich finde, es spricht vieles dafür, dieser interessanten Frage zu folgen, auch wenn sie das Thema glaube ich nicht vollständig erfasst.
Heute möchte ich mich jedoch mit diesem Teil begnügen.
Dabei konzentriere ich mich auf eine einzige, sehr praxisrelevante Fragestellung, die ich zuvor bereits kurz angesprochen hatte:
Was für Konsequenzen hat die Vorstellung eines separaten Selbst auf den Umgang mit leidvollen Erfahrungen, Krankheit, Verlust?
Wenn ich mit Patient*innen über die Erfahrungen im Umgang mit ihrer Erkrankung spreche, dann höre ich oft, wie hilfreich es für sie wäre, wenn sie sich dabei mit ebenfalls Betroffenen austauschen könnten.
Sie würden sich dann nicht mehr so alleine mit ihrem Schicksal fühlen.
Viele spüren den Vorteil der Verbundenheit in der gegenseitigen Unterstützung, und erkennen darin eines Tages sogar, dass sie mit ihrer leidvollen Situation nicht persönlich gemeint sind.
Sobald wir dann über diese Erfahrung weiter nachdenken, und diese Verbundenheit auch als mögliches Grundmotiv für ein zufriedenes und glückliches, gesünderes Leben betrachten, gerät jedoch die weiter oben beschriebene Neigung, die Bedürfnisse Anderer in Konkurrenz zu den eigenen Bedürfnissen zu sehen, bald wieder in den Fokus.
Die eingehende Auseinandersetzung mit dieser Frage gehört nach meiner Erfahrung zu den besonders Gewinn bringenden Themen einer Psychotherapie:
- Wie genau hat sich eigentlich dieser scheinbare Gegensatz im Leben der oder des Betreffenden entwickelt?
- Welche Glaubenssätze und Überzeugungen stehen dahinter?
- Wer stand oder steht für diese Vorstellung Pate?
- Von wem hat der oder die Patient*in diese Haltung gelernt?
- Welche Konflikte drücken sich darin aus, die nicht oder nur teilweise bewältigt wurden, und sich seither nur kompromisshaft lösen ließen?
In der Psychoanalyse beschäftigt sich unter anderem die Objektbeziehungspsychologie mit der Frage der verinnerlichten Erfahrungen in Beziehungen. Diese tauchen dabei als sogenannte „Repräsentanzen“ in unserem Selbstkonzept wieder auf, bilden als Matrix früherer Erfahrungen die Grundbestandteile dessen, was wir als unsere Persönlichkeit betrachten, und spiegeln nicht selten all das wider, was in den Überzeugungen und Vorstellungen sprachlich zum Ausdruck kommt:
- „Man kriegt nichts geschenkt.“ Das stimmt oft wortwörtlich mit den Erfahrungen aus der Kindheit überein. Jemand musste sich jede Form der Zuwendung erarbeiten, oft sogar erkämpfen.
- „Jeder ist sich selbst der Nächste.“ Diese Aussage kennen wir in moderner Form als neoliberale Formulierung „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“
- „Leistung muss sich wieder lohnen.“ Dieser Leitspruch in der Wahlwerbung drückt einen Glaubenssatz aus, der von Vielen so verinnerlicht ist, dass die Vorstellung eines sogenannten „Sozialschmarotzertums“ davon nicht weit entfernt liegt. Der darin enthaltene Gedanke der egoistischen Inanspruchnahme von Hilfen entstammt der Vorstellung, dass Menschen auf Kosten anderer leben, statt einander solidarisch zugewandt und mitfühlend für einander da zu sein.
In Verbindung mit der Konflikttheorie, die als Kern-Aspekt der psychoanalytischen Triebtheorie gelten kann, wird dabei deutlich, dass die so verinnerlichten Erfahrungen ein Ausdruck innerseelischer Spannungen sind, die sich aus der Vergangenheit ins Hier und Jetzt verlagert haben, und dadurch fortwährend unser Denken, Empfinden und Handeln zu bestimmen drohen.
Dabei geht es meistens ums „Gegeneinander“ statt um ein „Miteinander.“ Das ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, dass sich das Selbst in Abgrenzung zum Anderen definiert. Mit all den beschriebenen Folgen.
Verbundenheit und Gemeinsinn als Alternative zu Selbstbezogenheit oder Gleichmacherei
Auch in der buddhistischen Psychologie gehen wir von der Notwendigkeit eines getrennten Selbst aus. Es bildet eine Voraussetzung für die Identität als Einzelne*r auch in einer Beziehung zu „Anderen.“ Die Anders-heit stellt eines der zentralen Charakteristika des Menschseins dar, durch die wir uns sowohl einzigartig als auch verbunden fühlen können.
In der persönlichen Reifung bilden sich, wenn alles gut geht, dann Grenzen, die sowohl trennend als auch durchlässig sind, Unterschiede, die für Vielfalt und nicht für Mangel vs. Reichtum stehen.
Doch in der Bewältigung leidvoller Erfahrungen ist es immer auch eine Frage des Zeitpunkts, wann es für uns hilfreich ist, von der Bestärkung und Bestätigung des Selbst zur Verbundenheit und Infragestellung der Unabhängigkeit überzugehen.
Die Frage ist dabei für mich nicht ein „Ob,“ sondern ein „Wann“ und ein „Wie.“
Im Gespräch mit meinen Patient*innen erlebe ich es immer wieder, wie bereichernd es auch für Menschen mit einem unsicheren Selbstgefühl sein kann, sich nicht ständig zu vergleichen, und damit die Unterschiede zum Anderen als Wert-Aspekt zu betrachten, sondern die Unterschiedlichkeit als Zeichen von Individualität UND Verbundenheit anzuerkennen.
Patient*innen mit Selbstwertstörungen biete ich an, gemeinsam darüber nachzudenken, was der Vorteil daran sein kann, statt über Selbstwertgefühl über Selbst-Bewusstsein sprechen. Häufig führt das zu einem Aha-Erlebnis, dem nach einiger Zeit Erkenntnisse folgen wie „Ich beginne das erste Mal, anders über mich nachzudenken als im Sinne eines Vergleichens oder aus der Sicht von Anderen.“
Und wenn diese Erfahrungen dann vor dem Hintergrund der eigenen Erkrankungssituation zur Suche nach einer Selbsthilfegruppe führen, um sich mit anderen über die je eigenen Bewältigungsstrategien auszutauschen, dann erhalte ich nicht selten nach einiger Zeit die Rückmeldung, dass dieser Austausch zu den fruchtbarsten Hilfen gehört, die die Patient*innen bisher für sich finden konnten.
Hier beginnt dann der Austausch der „Selbste“ untereinander im besten Sinne zum Gemeinsinn zu werden, und die Bewältigung leidvoller Erfahrungen zur Gemeinschaftsaufgabe, auch wenn jede:r Einzelne in freier Selbst-Bestimmung und bei vollem Selbst-Bewusstsein den eigenen Weg darin finden muss.
Diese Erfahrung bildet eine gute Voraussetzung für einen Zuwachs an psychischer Flexibilität, bei der sich Akzeptanz und Engagement in der Bewältigung krankheitsbedingter Beeinträchtigungen gegenseitig ergänzen.
Wo sich die Hinweise für besonders prägende Mangelerfahrungen häufen, kann die Betrachtung des Selbst als verbundenes Element statt als separater Entität die Hoffnung der Patient*in stärken, dass ihre leidvolle, vergleichende Sicht eines Tages von der befriedigenden Erfahrung gegenseitiger Unterstützung und Bereicherung abgelöst werden wird.
Und jetzt: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen