Newsletter #21 vom 21.06.2025
Wie ist es für mich möglich, als Psychoanalytiker ein stilles Leben mit einem öffentlichen Leben in Einklang zu bringen?
Diese Frage hat mich in den vergangenen Monaten intensiv beschäftigt.
Denn ich lebe gerne „still.“
Stilles Leben, das heißt für mich,
- als Psychoanalytiker im Eins-zu-Eins-Kontakt der Stunden mit meinen Patient*innen, Supervisand*innen und Lehranalysand*innen mehr zuzuhören, als selbst zu sprechen
- in meiner täglichen Meditationspraxis Achtsamkeit und Bewusstsein zu üben, und Anderen durch die gemeinsame Praxis etwas davon zu vermitteln, was für mich Bewusstseinstraining bedeutet
- das, was mir wichtig ist, mehr durch meine Haltung zu vermitteln, als es explizit zu artikulieren
- alleine oder zu zweit im Wald spazierenzugehen, in den Bergen zu wandern oder am Meer zu sein, lange Trails zu laufen oder auch einfach nur am Wupper-Ufer in meiner Heimatstadt Wuppertal zu sitzen
Ich genieße es, für mich zu sein, aber auch mit anderen die Stille zu teilen, nach innen zu schauen und zugleich Verbundenheit zu spüren.
Öffentliches Leben, das hieß für mich im Gegensatz dazu in den vergangenen Jahren zum Beispiel,
- mich täglich auf der sozialen Plattform „LinkedIn“ über Buddhismus, Achtsamkeit, das Weltgeschehen, Psychoanalyse, Psychotherapie auszutauschen
- 10 Jahre lang eine psychotherapeutische Ausbildungsambulanz zu leiten, was eine fast ständige Erreichbarkeit und einen (zumindest inneren) täglichen Bereitschaftsdienst bedeutete
- mit Seminaren, in Foren, Vorträgen, Artikeln und Buchbeiträgen öffentlich zu machen, was ich denke
- einen Ausschuss für Öffentlichkeit und interdisziplinären Dialog der DPV, meiner psychoanalytischen Fachgesellschaft zu leiten und zu vertreten
- von 2013 bis zu seiner Schließung 2019 eine psychoanalytische Online-Community zu moderieren.
Die damit einhergehenden Erfahrungen waren bereichernd, inspirierend, haben mich belebt und erfüllt.
Aber sie haben mich auch angestrengt, beunruhigt, gefordert und letztlich – ermüdet.
Wozu habe ich mich so „veröffentlicht?“
Weil ich gerne lehre. Seit ich beruflich aktiv bin, gebe ich weiter, was ich gelernt habe, weil es mir Freude bereitet. Damit habe ich bereits während meines Studiums begonnen. Seither ist das Lehren fester Bestandteil meiner Arbeit.
Ich erhalte dadurch Bestätigung und Anerkennung, kann „generativ“ wirken, kreativ Neues entwickeln, finde darin einen sinnvollen Selbstausdruck.
Das hat jedoch auch immer bedeutet, dass ich lernen musste, extrovertierter zu handeln, als ich es eigentlich bin. Ich würde mich dabei als „trainierten Introvertierten“ bezeichnen.
Öffentlich zu sein, strengt mich an.
Dann doch lieber ein stilles Leben führen, und mich auf meine Arbeit in der Praxis beschränken?
Einige Zeit war das für mich ein Ideal. Ich konnte mir früher sogar vorstellen, als Mönch in einem Kloster zu leben. Ein eher eremitisches Dasein hat von jeher eine besondere Anziehungskraft auf mich ausgeübt.
Die Abstinenz des Psychoanalytikers hatte auf mich eine ähnliche Anziehungskraft. Aus der Erfahrung wusste ich, dass therapeutische Wirksamkeit nicht an Worte oder Handlungen gebunden ist.
Therapeutische Präsenz vermittelt sich durch Resonanz, die auch wortlos spürbar, vermittelbar und erfahrbar sein kann.
Aber ich wollte mich nie von der Welt abwenden. Ich bin seit meiner Schulzeit auch ein engagierter, politischer Mensch, der sich für seine Überzeugungen einsetzt.
Wie sich das als Psychoanalytiker realisieren lässt, und welche Form des „in der Welt seins“ sich dafür anbietet, interessiert mich seit langem.
Selbstzurücknahme zwischen Askese und Offenheit für eine Welt im Wandel
Seit ich bei dem Hildesheimer Professor für Kulturphilosophie, Rolf Elberfeld, den Begriff der Selbstzurücknahme entdeckt habe, befasse ich mich mit einer Haltung, die für mich den Eindruck vermittelt, als gäbe sie so etwas wie eine Antwort auf die Frage, wie sich ein stilles und ein öffentliches Leben in Einklang bringen lassen.
Zuerst las ich von Elberfeld Philosophie in Ralf Zwiebels Buchbeitrag „Kann der Psychoanalytiker vom Zen-Buddhismus lernen?“ im Lehrbuch „Psychotherapie und buddhistisches Geistestraining – Methoden einer achtsamen Bewusstseinskultur“, herausgegeben von Ulrike Anderssen-Reuster, Petra Meibert und Sabine Meck.
Hier zitiere ich Elberfeld aus einem Buchbeitrag „Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen“. Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme (2010) in dem Buch „Ökonomien der Zurückhaltung – Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion“. Diesen Beitrag finden Sie auch in Zwiebel’s Text, ich beziehe mich jedoch heute ausschließlich auf Elberfeld.
Er beschreibt Selbstzurückhaltung so:
„In China und Japan ist […] eine Form der Selbstzurücknahme zu beobachten, mit der – oft unter Zuhilfenahme von Bewegungsübungen – versucht wird, sich selbst nicht von sondern für die weltlichen Bewegungen und Veränderungen zu befreien. Denn nicht die weltichen Bewegungen und Veränderungen erscheinen dort als etwas Negatives, sondern die menschliche Unfähigkeit, sich mit diesem Wandel zu verbinden und ganz in diesen einzugehen.“ (Elberfeld 2010, S. 55)
Was also für europäische Ohren wie eine östliche Spielart des moralischen Frugalismus oder des Calvinismus klingt und an Welt-Entsagung und Verzicht denken lässt, bedeutet in der chinesischen und japanischen Lesart, sich durch Abwendung von Selbstbezogenheit für die Verbundenheit mit der Welt und für den Wandel alles Lebendigen zu öffnen.
Was mich dabei in Hinblick auf meine Ausgangsfrage jetzt neugierig macht, betrifft eine Art der Zugewandtheit zur Welt, die umso intensiver sein kann, je weniger ich mich von der Bezogenheit auf mich selbst, meine Wünsche und Bedürfnisse bestimmen lasse.
Wenn ich nun aus dieser Haltung heraus – oder mit ihrer Hilfe – meine „öffentlichen Anteile“ betrachte, fällt mir dazu zunächst ein Zitat meines Lehrers Jack Kornfield ein, der in Vorträgen im Rahmen meiner Ausbildung zum Meditationslehrer mit einem Schmunzeln immer wieder sagt: „It’s not about you.“
Ich spüre darin mittlerweile eine große Erleichterung.
Ich fühle mich befreit von einer Last, wenn ich mir bewusst mache, dass ich mir und anderen nichts beweisen muss, nicht um Anerkennung und Bestätigung ringen oder auf Zustimmung hoffen muss.
Und ich kann mich in anderer Weise, als es mir früher möglich war, öffentlich äußern, gesellschaftlich engagieren und für etwas, das mir wichtig ist, eintreten.
In Hinblick auf die therapeutische Haltung der Präsenz denke ich dabei, wie schwer es mir mitunter fällt, mich mit persönlichen Bewertungen zurückzuhalten.
Sobald ich der Auffassung bin, zu wissen was richtig und was falsch ist, fühle ich mich auch versucht, dies zu äußern. Selbstzurückhaltung kann sich hier dadurch positiv auswirken, dass ich meinen Patient:innen weiter zuhöre, zurückhaltender mit Bewertungen bin und so mehr eigenständige Entwicklungen ermögliche, die allenfalls durch teilnehmendes Beobachten, Zugewandtheit, interessiertes Nachfragen und eine innere Beteiligung gefördert werden.
Auch hier wird für mich deutlich, wie eine Zugewandtheit zur Welt (meiner Patient:innen) entstehen kann, die zugleich getragen ist von der Abstinenz im therapeutischen Setting, ja gerade dadurch ihre besondere Qualität erhält, dass ich mich freier fühlen kann von Selbstansprüchen, und diese Zuwendung nicht zur Befriedigung meiner Selbst suchen muss, auch wenn sie durchaus sehr befriedigend sein kann.
Wie lässt sich diese Haltung erlernen?
Die nächste Frage, die sich mir stellte, und die zum Abschluss dieser Newsletter-Ausgabe wie eine Einladung wirken soll, beschäftigt mich auch heute noch intensiv:
Was hilft mir dabei, diese Haltung der Selbstzurücknahme immer wieder einzunehmen?
Elberfeld betrachtet in der von ihm entwickelten „transformativen Phänomenologie“ eine philosophische Weise des „der Welt zugewandt seins,“ die von kulturellen Einflüssen des Zen-Buddhismus und Daoismus geprägt ist.
Hier erkenne ich große Parallelen zur buddhistischen Achtsamkeit als Haltung des wertungsfreien Wahrnehmung, mit deren Hilfe ich üben kann, das Erlebte genauestens als das zu untersuchen, was es ist, und auch die damit aufkommenden Gefühle, Gedanken und Vorstellungen in diese Betrachtung einzuschließen.
Kürzlich habe ich durch diese Achtsamkeitspraxis zum Beispiel entdeckt, wie sehr mein Selbstanspruch, regelmäßig Beiträge bei LinkedIn und auf meiner Webseite zu veröffentlichen und die Beiträge anderer zu kommentieren, von der Vorstellung geprägt ist, dass ich sonst nicht als verlässlich und kompetent wahrgenommen werde.
Diese Vorstellung hatte dazu beigetragen, dass ich mir immer weniger Zeit dafür genommen habe, um mir Gedanken zu machen, Worte zu finden und mich an Diskussionen zu beteiligen.
Dass ich im Laufe der Zeit immer müder davon wurde, und letztlich in einer Burnout-Schleife landete, kann ich jetzt mit Hilfe dieser Haltung nicht nur erkennen, sondern – so fühlt es sich zumindest im Moment an – auch an ihrer Heilung arbeiten.
Ich erlebe es als eine Erleichterung, auch diese Erfahrung selbst als Teil der Übung zu betrachten, von der ich bei Elberfeld lese, und mit Hilfe seiner Arbeiten auch noch einmal bei Dōgen und Bion, bei Shunryu Suzuki und Donald Winnicott.
Ich folge weniger meinen Erwartungen und Ansprüchen, die ich manchmal anderen zuschreibe, sondern ich kann mich immer wieder darauf besinnen, dass Stille und öffentliches Leben einander ergänzen und in der für mich zuträglichen, bekömmlichen Weise voneinander profitieren können.
Und jetzt: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen