Wie uns Achtsamkeit in der Psychotherapie zu mehr Gelassenheit verhilft

Newsletter #22 vom 05.07.2025

Mit einer Annäherung an Freud’s Konzept der gleichschwebenden Aufmerksamkeit und einer Ermutigung von Schopenhauer

In der ärztlichen Weiterbildungsordnung für Psychotherapie wird „Achtsamkeitstraining“ seit kurzem als eine der zu erlernenden Entspannungsverfahren aufgeführt, neben Jacobson-Entspannung, Autogenem Training und Hypnose.
Was genau mit diesem Training gemeint ist, wird nicht festgelegt.

Auch wenn immer wieder diskutiert wird, ob diese Engführung auf „Entspannung“ nicht irreführend ist, ist doch darin vielleicht auch eine Chance zu sehen.

Als einer der Ärzt*innen, die in meinem psychotherapeutischen Ausbildungsinstitut diese Weiterbildung anbieten, entwickele ich gerade ein Konzept für ein Achtsamkeitstraining für Ärzt*innen. Es soll Achtsamkeit als ein Bewusstseinstraining vermitteln, das der Kompetenzerweiterung für die psychotherapeutische Arbeit dient.

Haben Sie Interesse an einem solchen Achtsamkeitstraining? Dann sende ich Ihnen gerne in Kürze konkretere Informationen.

Im Rahmen dieser Vorbereitung habe ich noch einmal genauer nachgelesen, welchen Stellenwert Achtsamkeit in der buddhistischen Psychologie spielt. Die Quellenfunde bestätigen mich darin, sie als Teil eines Gesamtkonzepts für eine therapeutische Haltung zu vermitteln.

Diese Haltung der Präsenz, wie ich sie mit meinem Newsletter immer wieder beschreibe, hilft sowohl Therapeut*innen als auch Patient*innen, ihre Wahrnehmung zu schulen und ihre Aufmerksamkeit auf verborgene Aspekte ihres Erlebens zu richten, was sie als zusätzliche Ressource für ihre Arbeit und ihre Heilung nutzen können.

In dieser Haltung sind letztlich Achtsamkeit, Mitgefühl und Weisheit miteinander so vergesellschaftet, wie ich es in alten buddhistischen Schriften finde.

In diesen Schriften, die in der Sprache Pali verfasst sind, finden wir den Ausdruck „Sati“, der als Mindfulness oder Achtsamkeit übersetzt wird. Je nach Kontext verweist das Wort auf verschiedene Aspekte dessen, was damit in der buddhistischen Lehre gemeint ist.

Ich lese diese Schriften immer wieder auch mit den Augen eines Psychoanalytikers.

So habe ich mich schon während meiner Ausbildung gefragt, wie sich die Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit erlernen lässt. Freud gibt uns da wenig Hilfestellung. Er erwähnt lediglich „Übung“ (In: Psychoanalyse als Deutungskunst. Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 215), lässt jedoch offen, wie das zu geschehen habe.

Während ich mich mit dieser Frage zunächst in Zusammenhang mit der psychoanalytischen Behandlungstechnik beschäftigt hatte, beginne ich heute zu erkennen, welchen zentralen Wert diese „Technik“ darüber hinaus als Teil der psychotherapeutischen Haltung besitzt.

Welch erstaunliche Ähnlichkeiten sie zur buddhistischen Haltung der Achtsamkeit aufweist, darüber schreibe ich heute in meinem Newsletter.

Die Perspektive, mit der ich darüber schreibe, ergab sich aus meiner vorangestellten Aufgabe der Weiterbildung und aus der Überlegung, wie sich Achtsamkeit nutzen lässt, um Gelassenheit zu entwickeln, die ja eine gute Voraussetzung für eine wertungsfreie Aufmerksamkeit bilden kann.

Vier Facetten der Achtsamkeit

Der amerikanisch Buddhismus-Forscher und Pali-Übersetzer Rupert M.L. Gethin verweist in seinen Arbeiten auf vier unterschiedliche Aspekte:

  1. Präsenz
  2. Erinnern
  3. Einsicht
  4. Konzentration

Alles das heißt Achtsamkeit – in der Sprache, in der die frühesten buddhistischen Lehren und Vorträge verfasst sind.

Sie erkennen gleich, dass hier über einen geistigen Zustand gesprochen wird, der mehr Tiefe und Differenziertheit besitzt, als es die Verwendung von Achtsamkeit als Entspannungstechnik heute ahnen lässt.

Der britische Psychoanalytiker Wilfred R. Bion spricht mit dem Begriff der „negativen Fähigkeit“ davon, worüber jemand verfügt, der

„zwischen Unsicherheiten, Geheimnissen und Zweifeln ausharren kann, ohne sich zu einer erregten Suche nach Fakten und Gründen gedrängt zu fühlen.“

Mit dieser Formulierung zitiert er den britischen Dichter John F. Keats ( geb. 1795), der bereits als 24jähriger über die intuitive Fähigkeit nachdachte, vielschichtige Charaktere für Protagonist*innen in der Literatur zu entwickeln.

Nun, wir arbeiten heute oft mit einigem Pragmatismus mit den Alltagserfahrungen unserer Patient*innen, und das hat gute Gründe. Doch auch da lassen sich bei aufmerksamem Zuhören Facetten des Unbewussten aufspüren, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts in den Anfangszeiten der Psychoanalyse noch auf die Traumdeutung oder die Untersuchung von Fehlleistungen beschränkt schienen.

Mich erinnert diese Arbeit auch an japanische Kurzgedichte, die sogenannten Haikus.

In diesen Gedichten werden mit ganz wenigen Worten und durch das Aufgreifen alltäglicher Erfahrungen bewegende Momente unmittelbarer Erfahrung beschrieben, deren Bedeutungstiefe durch die Form der Verwendung – in der kontemplativen Kunst des Haiku-Dichtens – zum Ausdruck kommen kann. Sie bringen etwas auf den Punkt, das Zeit hatte, sich zu entwickeln, und wie ein Kondensat, eine Einsicht, ein Aha-Moment wirkt.

Was hat das nun mit Achtsamkeit und Gelassenheit zu tun?

Je mehr wir uns emotional beteiligt fühlen, desto schneller sind wir im Kontakt mit unseren Patient*innen versucht, auf etwas zu reagieren.

Wir beginnen zum Beispiel, uns besorgt um etwas zu „kümmern,“ statt unseren Patient*innen die Möglichkeit zu geben, eigene Herangehensweisen zu entwickeln, wie sie ihre Aufgaben angehen oder ihre Probleme lösen könnten. Das würde zumeist mit Hilfe unserer Präsenz und im Schutz der therapeutischen Situation gelingen, aber wie oft passiert es uns, dass wir diese Möglichkeit aus den Augen verlieren?

Meines Erachtens sind es jedoch nicht die Emotionen an sich, sondern die Schlüsse und Bewertungen, denen wir unterliegen. Wir handeln meistens ja nicht unmittelbar aus dem Affekt heraus, sondern aufgrund von Vorstellungen, die das Ergebnis unserer eigenen Erfahrungen mit dem widerspiegeln, was wir im Gespräch von unseren Patient:innen hören.

Sigmund Freud schreibt dazu in „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“:

„Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes, und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Neigungen, so wird man sicherlich die mögliche Wahrnehmung verfälschen.“
(Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 377)

Im psychoanalytischen Verständnis der Gegenübertragung fließen unsere eigenen Wertungen darin ein, „wie“ und „was“ wir hören, und vermischen sich mit den unbewussten Aspekten des Erlebens unserer Patient*innen.

In der buddhistischen Psychologie wird dieser gesamte Vorgang als Teil eines komplexen Geschehens beschrieben, das die Verarbeitung von Reizen (ausgehend vom Objekt) umfasst, die unsere Sinnesorgane und unser Gehirn vornehmen.

Leider kriegen wir davon nicht viel mit, solange wir es uns nicht bewusst machen.

Damit uns das jedoch inmitten des oft turbulenten Geschehens einer laufenden Psychotherapie gelingt, benötigen wir Übung und Gelassenheit, die in der buddhistischen Psychologie auch als Gleichmut bezeichnet wird. Letztere ist nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit oder Ignoranz. Wir achten vielmehr darauf, uns dem zuzuwenden, was „wirklich“ ist, also sowohl im Geschehen als auch unseren eigenen Reaktionen darauf bemerken können, was da eigentlich gerade „geschieht.“

Wie können wir lernen, gelassen und aufmerksam zugleich zu sein, zugewandt und „gleichschwebend“ wahrzunehmen, was wirklich ist?

Hier verhilft uns Achtsamkeit zu einer Möglichkeit, das Geschehen zu beobachten. Wir können es mit Hilfe von kontemplativen oder meditativen Techniken üben, mit denen wir unsere Aufmerksamkeit lenken und unser Gehirn „beaufsichtigen.“

Das nennen wir im Buddhismus „formale Praxis,“ im Vergleich zur informellen Praxis, die Achtsamkeit in den Alltag integriert.

Durch meditative Techniken soll das Üben erleichtert und in Form einer trainierten Gewohnheit so verinnerlicht werden, dass es später auch im Alltagsgeschehen leichter fällt, sie anzuwenden. In der Meditation können wir unsere Aufmerksamkeit zum Beispiel auf sogenannte Anker wie die Atmung oder eine andere Körperwahrnehmung richten, und so mit einfachen Übungen in einer ruhigen Atmosphäre trainieren.

Gelassenheit hilft uns vor allem auch dabei, uns der Abhängigkeit von bestimmten Gefühlszuständen oder Verfassungen bewusst zu werden, d.h. ob etwas angenehm, unangenehm oder neutral ist.

Sobald uns diese Abhängigkeit bewusst ist, können wir die Fähigkeit entwickeln, diese näher zu untersuchen, um diese besondere Beziehung später lediglich wahrzunehmen und zu „halten,“ statt unmittelbar darauf zu reagieren.

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Stephen Covey

In dem Maße, in dem uns dies gelingt, erkennen wir dann weitere Facetten, die uns durch eine sofortige Reaktion entgangen wären.

  • Gefühle kommen – und vergehen wieder
  • Der Geist denkt – und wechselt einen Moment später die Richtung
  • Unser:e Patient:in gerät in Angst – und beruhigt sich einen Moment später wieder. Nicht immer – aber so, dass wir spüren, wie sich im Laufe der Zeit die Spielräume dafür vergrößern.

Was dafür erforderlich ist, beschreibt wiederum der Forscher Rupert Gethin mit seiner Analyse der Übersetzungen anhand der vier Aspekte der Achtsamkeit recht gut.

Auf die therapeutische Situation angewendet, heißt das z.B.:

  • Wir bemühen uns um Präsenz, versuchen gegenwärtig und ganz im Hier und Jetzt des Gesprächs mit unseren Patient:innen zu sein
  • Wir konzentrieren uns auf unsere Aufgabe des Zuhörens, und erinnern uns immer wieder daran, dass wir unseren Blick sowohl nach aussen als auch nach innen richten, um alle Regungen wahrzunehmen, und seien sie noch so diskret und versteckt.
  • Wir nutzen Fragen, eine forschende Haltung und unser „Nicht-Wissen“ als Bereitschaft, etwas vom Anderen zu erfahren und neue Einsichten zu erlangen, ohne der Versuchung zu erliegen, etwas „schon zu wissen.“
  • Wir erinnern uns immer wieder an die uns zur Verfügung stehende Hilfe des genauen, aufmerksamen Wahrnehmens, auch wenn unsere Gedanken abschweifen, und nehmen sogar die Richtung des Abschweifens als mögliche Information unseres Denkens wahr, ohne der Versuchung zu erliegen, uns an ihr festzuhalten.

Hier denke ich wieder auf die gleichschwebende Aufmerksamkeit Sigmund Freuds. Vielleicht kannte er – als an Kulturen und Traditionen sehr interessierter Forscher – die buddhistischen Quellen sogar?

Seine Nähe zu Schopenhauers Philosophie lässt mich jedenfalls daran denken, auch wenn Freud den Buddhismus in seinen Werken nie explizit erwähnt hat.

Wenn man den Buddhismus aus seinen Quellen studiert, da wird es einem hell im Kopfe.
Arthur Schopenhauer

Und jetzt: in die Praxis.

Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen

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