5 Mechanismen der Achtsamkeit, mit denen sie ihre positive Wirkung entfalten kann

Newsletter #5 vom 12.10.2024

Wenn Sie diesen Newsletter lesen, bin ich auf dem Weg nach Österreich zu meinem ersten Vipassana-Retreat. Dort üben wir die sogenannte Einsichts-Meditation.

6 Tage wird meditiert und geschwiegen. Auch digital. Ich bin während dieser Zeit offline und werde weder mündlich noch schriftlich “mit der Aussenwelt” kommunizieren. Im Anschluss werde ich über meine Erfahrungen berichten.

Der nächste erscheint voraussichtlich in zwei Wochen, d.h. am 26.10.


Achtsamkeit ist ein kraftvolles Werkzeug, das Psychotherapeut*innen dabei unterstützt, selbstfürsorglich Mit ihren Patient*innen zu arbeiten.

In diesem Newsletter beleuchte ich fünf Mechanismen, die zur positiven Wirkung von Achtsamkeit beitragen:

  • Entspannung
  • Akzeptanz
  • Affekttoleranz
  • Verhaltensänderung
  • metakognitive Wahrnehmung/Einsicht.

Diese Mechanismen können nicht nur Ihr Wohlbefinden als Therapeut*in steigern, sondern auch die Qualität der Therapie, die sie Ihren Patient*innen anbieten.

Achtsamkeit zu verstehen und zu integrieren, kann zu einer tiefgreifenden persönlichen und beruflichen Transformation führen. Durch die Anwendung dieser Mechanismen können Sie Ihre emotionale Resilienz stärken und eine tiefere Verbindung zu ihren Patient:innen aufbauen.

Mechanismus #1: Entspannung

Warum ist das wichtig?

Entspannung steigert das allgemeine Wohlbefinden, was für Therapeut:innen essenziell ist, um langfristig effektiv arbeiten zu können.

Das funktioniert zum Beispiel, indem unser Default Mode Networknicht mehr so durchdringend “funkt,” sobald wir zwischen zwei Behandlungsstunden versuchen, etwas „Ruhe im Kopf“ zu haben. Dieses Netzwerk verbindet Hirnregionen, die für den Gedankenfluss zuständig sind, während wir gerade KEINE Aufgabe lösen. Mit Hilfe von Achtsamkeitsübungen können wir lernen, diesen Gedankenfluss wahrzunehmen, ohne uns davon getrieben zu fühlen oder den einzelnen Gedankengängen hektisch folgen zu müssen. So entwickelt sich im Laufe der Zeit eine Gelassenheit, die von Vielen als sehr erholsam erlebt wird.

Die durch diese Achtsamkeit entstehende Entspannung muss nicht tief sein. Sie braucht lediglich regelmäßig „ein kleines bisschen“ weniger Anspannung zu bewirken.

Das summiert sich genauso, wie umgekehrt die Telefonate, Mails und News tun, die ansonsten jede Lücke füllen, zu immer größerer Spannung beitragen können.

Ein Praxis-Tipp:

Oft reicht es schon, wenn Sie für einige Minuten auf Ihre Atmung achten und dann mögliche Körperspannungen wahrnehmen. Sobald es Ihnen gelingt, ein Stückchen loszulassen, schaffen Sie günstigere Voraussetzungen dafür, dass sich diese Spannungen nicht von Stunde zu Stunde verstärken.

Mechanismus #2: Akzeptanz

Warum ist das wichtig?

Akzeptanz bedeutet, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind, ohne sie sofort ändern zu müssen.

Ein Beispiel: Ein voller Arbeitstag kann sehr fordernd sein, vor allem wenn wir uns nicht ganz fit fühlen und unsere Patient:innen sich gerade an diesem Tag mit bedeutsamen Themen befassen, die unsere besondere Aufmerksamkeit erfordern. Diesen Umstand annehmen zu können und weniger damit zu hadern, kann unsere eigene Kraftanstrengung, die wir an diesem Tag aufwenden müssen, deutlich reduzieren.

Dann können wir z.B. unseren Patient:innen dadurch helfen, dass wir unser besonderes Augenmerk auf unser Mitgefühl lenken, statt ausgerechnet heute im Problemlösungmodus zu arbeiten.

Ein Praxis-Tipp:

Sobald Sie bemerken, dass Sie nicht Ihren besten Tag haben, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf, Ihre Patient:innen durch mitfühlende Äußerungen zu begleiten, statt zu versuchen, einen neuen „Masterplan“ zu entwickeln. Akzeptanz zu entwickeln, das bedeutet in diesem Fall, anzuerkennen, was ist, und sich mehr der Bewältigung der Umstände zuzuwenden, die zu leidvollen Empfindungen führen.

Wenn wir genau hinspüren, spiegelt sich darin oftmals ohnehin nur unser schlechtes Gewissen wider, nicht ganz auf der Höhe zu sein.

Mechanismus #3: Affekttoleranz

Warum ist das wichtig?

Affekttoleranz ermöglicht es uns, intensive Emotionen zu ertragen, ohne überwältigt zu werden, was entscheidend für die Arbeit mit emotional belasteten Patient:innen ist.

In der Achtsamkeitspraxis sehe ich eine der besten Möglichkeiten, den Umgang mit schwierigen Affekten sowohl bei uns selbst als auch bei unseren Patient:innen zu unterstützen. Sobald Sie eine Gefühlsregung in sich wahrnehmen, haben Sie dadurch die Möglichkeit, die damit einhergehenden Gedanken als gefühlsgeleitete Vorstellungen, Befürchtungen, Erwartungen etc. zu identifizieren.

Eine neugierige Haltung entsteht jedoch erst, wenn die Affektintensität etwas absinken kann. Sobald das der Fall ist, können Sie das erforschen, was wir in der Psychoanalyse „Gegenübertragung“ nennen. Was in uns spürbar wird, kann entweder durch uns in die Stunde bzw. den Praxis-Tag gelangen, oder von unseren Patient:innen mitgebracht werden. Alleine diese Unterscheidung hilft, geeignete Möglichkeiten zu erforschen, wie sich damit besser umgehen lässt.

Meines Erachtens gelingt es leichter, diese Haltung einzunehmen, wenn wir darin eine gewisse Übung entwickelt haben.

Das spricht für eine regelmäßige, eigene Achtsamkeitspraxis, aus der heraus wir auch ohne konkreten Anlass immer mal wieder unsere Aufmerksamkeit auf das affektive Geschehen lenken, ohne sofort etwas damit „anfangen“ zu müssen.

Ein Beispiel:

Kürzlich verursachte es eine Unachtsamkeit, dass ich in einer Pause das klingelnde Telefon abnahm, anstatt mir die Zeit zu nehmen, um mich von der vorhergehenden Stunde zu erholen.

Die Anruferin fragte nach einem Psychotherapie-Platz. Es war die dritte Anfrage an diesem Tag, die ich ablehnen musste. Nicht einmal einen freien Sprechstundentermin hatte ich noch.

In der nachfolgenden Stunde bemerkte ich, dass ich in Gedanken immer wieder zu diesem Problem abglitt. Als mein Patient mich unvermittelt fragte, ob ich mit etwas anderem beschäftigt sei, konnten wir gemeinsam erkennen, dass sein Thema ( das Versagen in seiner Elternrolle, über das er nachdachte) in mir dazu beigetragen hatte, immer und immer wieder selbst mit dem schlechten Gewissen in Kontakt zu kommen, über das auch der Patient sprach.

Sobald das Gespräch darüber möglich war, ließ rasch die Anspannung nach, die sich zuvor im Kontakt entwickelt hatte, und auch meine innere Abwesenheit konnte einer jetzt wieder fokussierteren Aufmerksamkeit weichen.

Mechanismus #4: Verhaltensänderung

Warum ist das wichtig?

Es ist nicht gerade naheliegend, an Verhaltensänderung zu denken, wenn es um Achtsamkeit geht, aber es wird sofort klar, sobald wir unser Verhalten als Ausdruck unserer Haltung betrachten.

Das Pathos der Distanz, das krampfhafte Betonen der versachlichenden Verbalisierung, welches der Psychoanalyse wie ein staubiger Schatten vorauseilt: beruht es nicht auf der Gegenwehr gegen die Tatsache, dass die psychoanalytische Beziehung zugleich eine außerordent- lich intime Angelegenheit ist und aus dieser Intimität auch ihre Wirkung schöpft? Manfred Schmidt (Der Einfluss der Präsenztheorie auf die psychoanalytische Behandlungstechnik)

Achtsamkeit lässt uns ein anderes Verhältnis zur Gegenwart entwickeln. Wir beginnen, unsere Aufmerksamkeit gezielt auf das Hier und Jetzt zu richten. Statt uns mit Plänen und „Was mache ich jetzt damit?“ vom gegenwärtigen Moment zu distanzieren, bemühen wir uns um die Wahrnehmung dessen, was gerade stattfindet, in uns und um uns herum.

Daraus entwickelt sich eine Haltung, die wir Präsenz nennen.

Das damit einhergehende Verhalten wendet sich ebenfalls mehr der Gegenwart zu. Wir könnten es „sich zuwenden“ oder „zuhören“ oder „zuneigen“ nennen – und drücken damit unseren Patient:innen gegenüber aus, dass wir für sie da sind, in dieser Stunde, im Gegenüber. Daraus entstehen transformative Erfahrungen, die wir als Ausdruck von Resonanz verstehen können.

Noch einmal Manfred Schmidt: „Resonanz, das ist die wesentliche Wirkung von Präsenz.“

Ein Beispiel:

“Heute ist alles anders.“ Das bemerkt meine Patientin, während wir uns in der Stunde Gedanken über eine Alltagssituation machen.

Erst in diesem Moment fällt mir auf, dass sie damit den Verlauf unserer Stunde meint. Es hatte soeben an der Tür geklingelt und ein Paketbote brachte eine dringend erwartete Sendung. Sonst nehmen Nachbarn für mich die Post entgegen, damit die Stunden ungestört verlaufen können.

Ich erwidere: „Das stimmt. Das erzeugt eine ganz schöne Unruhe.“ Jetzt sind wir im gegenwärtigen Moment. Sofort wird der Kontakt intensiver, die von der Patientin weiter geschilderten Erfahrungen spürbarer – ein Bericht wird zur erlebbaren Erfahrung, weil die Patientin nun sichtbar bewegt ist.

Im Nachhinein denke ich, dass auch die Störung sich als Teil des therapeutischen Geschehens in der Stunde nutzen ließ, als – wie es sonst mein Bemühen wäre – als zu vermeidender Einfluss zu gelten.

Mechanismus #5: Metakognitive Wahrnehmung/Einsicht

Jetzt wird’s kompliziert. Aber nur kurz.

Warum ist das wichtig?

Metakognitive Wahrnehmung fördert das Bewusstsein für die eigenen Gedankenprozesse und ermöglicht tiefere Einsichten, die die Grundlage für das bilden, was wir Selbstreflexion nennen.

Dabei fokussieren wir nicht auf das, was uns inhaltlich beschäftigt, sondern auf das Denken selbst, auf das Bewusstsein des Bewusstseins, auf das Strömen der Gedanken, das Auftreten von Gefühlen, Verweilen und Vergehen ihrer Wirkung auf uns. Dadurch entsteht im Laufe der sich ausbildenden Erfahrung mit diesem Prozess eine erhöhte Sensibilität für das, was wir auch als innere Dynamik bezeichnen könnten. Bei genauerem Hinsehen stellen wir nämlich Zusammenhänge fest, die uns zuvor nicht zugänglich waren.

So können wir uns leichter bewusst werden, was in der Stunde „ von Moment zu Moment“ geschieht, ohne uns dabei allzu sehr anstrengen zu müssen.

Praxis-Tipp:

Versuchen Sie einmal, sich zu Beginn der Stunde bewusst zu machen, wie sich das Gespräch zwischen Ihnen und Ihrem Gegenüber aus der körperlichen Begegnung heraus, die bei der Begrüßung „im Raum“ stattfindet, entfaltet. Lassen sich darin Hinweise erkennen, die auf einen Zusammenhang zum „Denken des Gedachten“ hinweisen könnten? Durch einen kurzen Moment des Innehaltens, sobald Sie sich gesetzt haben, wird vielleicht ein Impuls spürbar, schnell etwas zu sagen, weil der Patient auf Sie einen besonders „bedürftigen“ Eindruck vermittelte. Was davon ist Teil der Ausstrahlung des Patienten, was kann „hineingedacht“ sein, und was lässt sich besser als Enactment, also als gemeinsam herbeigeführtes Geschehen betrachten?

Es kann sein, dass sich ein solches „Bewusstmachen“ erst im Nachhinein realisieren lässt, vor allem, wenn Sie diese Form der Aufmerksamkeitslenkung noch nicht lange praktizieren. Im Laufe der Zeit entwickelt sich diese Fokussierung jedoch immer leichter.

Das fördert die metakognitive Einsicht ins Geschehen.

Die fünf Finger einer Hand

Durch die Integration dieser fünf Mechanismen der Achtsamkeit in Ihren Praxisalltag können Sie als Psychotherapeut*in nicht nur ihre eigene Lebensqualität verbessern, sondern auch die Wirksamkeit ihrer therapeutischen Arbeit steigern.

Ich arbeite in Supervisionen gerne mit dem Bild der fünf Finger einer Hand. Jeder einzelne kann für sich genommen eine Funktion entfalten. Integrieren Sie jedoch diese fünf zu den Gliedern einer Hand, dann vermag diese Integration eine Vielzahl an weiteren Möglichkeiten zu entfalten.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen „ein gutes Händchen“ im Erlernen und Üben einzelner oder aller Mechanismen, mit denen sich die förderliche Wirkung der Achtsamkeit entwickeln kann.

Haben Sie zu einzelnen Mechanismen Fragen oder Anregungen, oder können von eigenen Erfahrungen berichten? Dann freue ich mich auf Ihre Rückmeldung.

“Just Hit Reply.“

Aber denken Sie daran: antworten kann ich Ihnen leider erst wieder ab Samstag, dem 19.10.24

Herzliche Grüße aus dem ICE 515,

Sönke Behnsen

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