Lässt sich Mitgefühl trainieren?

G.R.A.C.E © – Ein Praxis-Modell

Newsletter #14 vom 15.02.2025

Wie können wir mit den Menschen, um deren Wohlergehen wir uns bemühen, „von Herz zu Herz“ sprechen und handeln? Können wir dafür unser Mitgefühl trainieren?

Wie behalten wir dabei auch unser eigenes Wohlergehen im Blick, damit wir unser Mitgefühl wirklich nutzen und mit der nötigen Besonnenheit das tun können, was „hilfreich und gut“ ist – nicht mehr und nicht weniger? Gibt es eine Möglichkeit, diese Fähigkeit zu entwickeln und ihr Potenzial uneingeschränkt nutzen zu können?

In meinem letzten Newsletter hatte ich Ihnen ein Praxis-Modell vorgestellt, mit dem sich Präsenz trainieren lässt.

Heute möchte ich Ihnen gerne ein weiteres Modell nahebringen.

Es wurde von der Zen-Meisterin Joan Halifax als Methode entwickelt, um im Einsatz für Menschen Mitgefühl entwickeln und aus dieser Haltung geeignete Hilfen leisten zu können, ohne sich selbst dabei ausser Acht zu lassen.

Dieses Modell ist Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Arbeit mit Menschen in Care-Berufen und ihrer Tätigkeit in der Begleitung Sterbender. Es wird heute weltweit gelehrt und praktiziert.

Mir scheint dieses Modell auch für unsere therapeutische Arbeit gute Dienste zu leisten. Es stellt ein praktisches Werkzeug zur Verfügung, das therapeutischen Fachkräften und Pflegekräften sowie anderen Berufsgruppen in der Sozialen Arbeit und im Gesundheitswesen hilft, Mitgefühl in ihre Interaktionen mit Patient:en zu integrieren.

Um dieses Modell zu lernen, habe ich einen mehrtägigen Online-Workshop am Upaya-Center, New Mexico besucht und dabei einige Literatur-Quellen ausgewertet. Sie finden eine dieser Quellen am Ende dieses Newsletters. Einen ausführlicheren Quellen-Nachweis und weitere Informationen zum Modell habe ich in meinem Beitrag zum Thema zusammengestellt.

Zu Beginn möchte ich ein paar der verwendeten Begriffe klären. Warum, das wird sich Ihnen in Kürze erschließen, und ich bitte Sie um einen Moment Ihrer Aufmerksamkeit dafür.

Mitgefühl und Empathie – zwei Qualitäten der Einfühlung und ihre Unterschiede

Für viele Menschen sind die beiden Begriffe gleichbedeutend. Eine Unterscheidung ist jedoch hilfreich. ihre Präzisierung habe ich von englischen und amerikanischen Forscher:innen übernommen, die sich in ihren Arbeiten eingehend damit befassen.

Während Empathie uns in einander einfühlen lässt, und wir uns dabei “wie der/die andere” fühlen können, geht Mitgefühl darüber hinaus. Es verändert die Qualität des eigenen Empfindens. Wir spüren den Impuls oder die Intention, zu helfen, etwas an der Lage des oder der Anderen zu verändern. Wir entwickeln den Wunsch, deren Leiden zu lindern oder zu beenden.

Mitgefühl ist ohne Empathie nicht denkbar. Empathie kann jedoch auch ohne Mitgefühl denkbar sein.

Der schlimmste Gewalttäter ist derjenige, der seine Empathie nutzt, um sich in sein Opfer hineinzuversetzen und dadurch zu manipulieren. Er hält dann z.B. nicht dem Menschen selbst, den er bedroht, die Waffe an den Kopf, sondern dessen Kind.

Traumatisierung wirkt doppelt, wenn wir eine extrem leidvolle Erfahrung machen und uns dabei ohnmächtig ausgeliefert fühlen. Auch das kann die Folge einer empathischen Manipulation sein.

Wir nennen diese Form der Empathie kognitive Empathie, im Gegensatz zur emotionalen Empathie, bei der das Empfinden in uns einer Gefühlsreaktion zugrundeliegt, die uns mit dem Anderen verbunden fühlen lässt.

Um nun über die Empathiefähigkeit hinaus die besondere Fähigkeit des Mitgefühls für den Einsatz zu entwickeln, etwas am Leid zu verändern, braucht es ein prosozialen Empfinden, das mit Liebe verwandt ist. Manche Autor*innen setzen es gleich, manche halten es für identisch mit Freundlichkeit.

In der buddhistischen Psychologie nennen wir dieses grundlegende Empfinden auch Metta, ein Wort aus dem Sanskrit, das wir mit “liebende Güte” übersetzen können. Es beschreibt die Fähigkeit, sich dem oder der anderen in besonderer Zuneigung verbunden zu fühlen.

Nun fühlt es sich gewiss für manche ungewöhnlich an, über Gefühle wie Liebe oder liebende Güte im professionellen Kontext zu sprechen. Besser geht es schon, wenn wir es mit Nächstenliebe versuchen, solange wir diese als ethisch-moralischen Begriff anerkennen, oder von Freundlichkeit sprechen.

Mein Vorschlag: Machen Sie es sich zunächst einfach. Versuchen Sie, sich diesem Bedeutungsfeld von der Seite her zu nähern, die Ihnen nahe liegt oder offen steht. Es ist nicht so entscheidend, ob wir uns bei den gleichen Begriffen treffen, solange wir für möglich halten, dass sich das spürbare Befremden im Austausch ansprechen und gemeinsam aufnehmen lässt, um die Qualitäten des jeweiligen Empfindens herauszuarbeiten.

Doch nun zurück zum Modell von Joan Halifax.

G.R.A.C.E – ein Mnem für praktiziertes Mitgefühl?

Was spricht für ein Training des Mitgefühls? Untersuchungen zeigen, dass Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen, die über diese Fähigkeit in besonderer Weise verfügen, durch ihre Hilfsbereitschaft einen wertvollen Beitrag zum Wohl ihrer Patient*innen leisten können, und zugleich vor dem Ausbrennen geschützt sind.

Mitgefühl – richtig angewendet – bedeutet auch Selbst-Mitgefühl.

Sie kennen alle das Zitat aus der Bergpredigt, das in der Bibel überliefert ist: “Liebe Deine*n Nächste*n wie Dich selbst.”

Es verdeutlicht, dass wir beide Seiten in unser Mitgefühl einschließen sollen – uns selbst und den/die Andere*n.

Mitgefühl als Schutz vor Burnout?

Halifax hat ihr Modell in der Arbeit mit besonderes belasteten Menschen erprobt, und aus ihren Erfahrungen mit Mitarbeiter*innen in diesen Einsatzbereichen gleichermaßen ein Gespür für die Bedürfnisse der Helfenden wie der Menschen entwickelt, für deren Wohl sie sich einsetzen.

Zur Ausgangssituation:

Wir erkennen das Leiden eines/einer Anderen, spüren deren Schmerz oder die Trauer, die Angst oder ein anderes, leidvolles Gefühl, das uns dazu bewegt, sein/ihr Leid lindern zu wollen.

Nun gibt es Situationen, in denen wir umgehend handeln müssen, weil wir eine Not wenden oder jemand aus einer Situation retten müssen. Auch hier lässt sich das Modell anwenden, jedoch ist es zunächst vielleicht sinnvoll, sich vorzustellen, wir hätten eine gewisse Zeit, um uns zu besinnen und einen Überblick zu verschaffen.

Das Modell besteht aus fünf Schritten, für die jeweils einer der Buchstaben des englischen Wortes G.R.A.C.E. steht:

1. Gathering Attention (Aufmerksamkeit sammeln): Dies bedeutet, sich zu fokussieren. Es geht darum, sich bewusst Zeit zu nehmen, um sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren, Ablenkungen zu minimieren und mentalen Lärm zu reduzieren.

Dieses Fokussieren können Sie erreichen, indem Sie ihren Atem als Anker verwenden. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit bewusst auf den Atem, so wie Sie ihn gerade spüren. Nutzen Sie einige tiefe, langsame Atemzüge, um sich “nach innen” auszurichten. Gleichfalls eignet sich, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie Sie Ihre Füße im Kontakt zum Boden wahrnehmen.

2. Recalling Intention (Absicht erinnern): Hierbei geht es darum, sich an die Motivation und den höheren Zweck der eigenen Handlungen zu erinnern. In einem hektischen Arbeitsumfeld kann es leicht passieren, dass wir den tieferen Sinn unserer Arbeit aus den Augen verliert.

Sich regelmäßig an die eigenen Kernwerte und die Motivation zu erinnern, kann helfen, jede Begegnung bedeutungsvoller zu gestalten.

In einer konkreten Situation schafft ein sich bewusst erinnern wieder eine Verbindung zu diesen Werten. – Was hat Sie ursprünglich dazu motiviert, Ihren Beruf zu ergreifen? – Welche Werte motivieren Sie, morgens zur Arbeit zu gehen, oder sich jeden Tag neu für Andere einzusetzen?

3. Attuning to Self/Other (Sich selbst und andere einstimmen): Dies bedeutet, sich emotional auszurichten und dann die volle Aufmerksamkeit auf die Person zu lenken, mit der wir interagieren.

Es geht darum, aktiv zuzuhören, die Körpersprache zu beobachten und alle nonverbalen Zeichen wahrzunehmen, um ein vollständiges Verständnis für die Bedürfnisse und Gefühle des Gegenübers zu entwickeln.

Auch hier – wie in Punkt 1 – sehen wir die Verbindung zur Präsenz. Je präsenter wir sind, desto eher sind wir aufmerksam zugewandt und auf uns selbst und andere eingestimmt.

4. Considering (Überlegen): In diesem Schritt wird überlegt, was wirklich hilfreich für die Person ist. Es geht darum, offen zu bleiben und die Situation gründlich zu analysieren, anstatt sich auf erste Ideen oder gewohnheitsmäßige Reaktionen zu verlassen.Wir nutzen unser Wissen und unsere Erfahrung, um die bestmöglichen Handlungen zu bestimmen[4][5].

Wir stellen eine Verbindung von Wissen und Erfahrung mit dem her, was wir im Hier und Jetzt, im Kontakt mit dem Anderen in der konkreten Situation spüren und erkennen.

An dieser Stelle möchte ich einen Bogen zu einem für Sie vielleicht neuen Aspekt therapeutischen oder pflegerischen Handelns schlagen, der in einer zukünftigen Ausgabe meines Newsletters noch einmal eine zentrale Rolle spielen wird:

Weisheit.

Weisheit kann sowohl Voraussetzung als auch Ziel unseres Tuns sein. Wissen und Erfahrung bilden wichtige Grundlagen von Weisheit. Wenn wir hier eine solide Basis legen, entscheiden wir situationsangemessen und mit Bedacht.

Der Wunsch, weise Entscheidungen zu treffen, das kann uns dazu motivieren, uns auf die Suche nach alltagstauglichen Versionen alter Weisheits-Traditionen zu machen, die uns zusätzlich darin unterstützen können, die richtige Entscheidung zu treffen.

5. Engaging (Handeln) und Ending (Beenden): Unser letzte Schritt besteht darin, auf der Grundlage der vorherigen Überlegungen zu handeln. Dies bedeutet, ethisch und einfühlsam zu handeln und die Interaktion dann zu beenden.

Beides – die Aktion und die Beendigung dieser Aktion – sind eng miteinander verknüpft. Sich der Grenzen des eigenen Handelns bewusst zu sein, schützt uns und Andere. Es macht unser Tun realistisch, angemessen und effizient. Es bildet die Grundlage dafür, dass wir unsere Ressourcen so einsetzen können, dass wir nicht nur “dieses eine Mal” handlungsfähig sind, sondern unserer Aufgabe noch weiter nachgehen können, nach Möglichkeit über lange Zeit und zu unserer und des/der Anderen Zufriedenheit und Wohl.

Wie lässt sich das G.R.A.C.E.-Modell in die Praxis umsetzen?

Um die fünf Schritte wirklich zu trainieren, ist es erforderlich, sich diese zuerst – wie eben schon empfohlen – in solchen Momenten in Erinnerung zu rufen, in denen wir planvoll vorgehen können.

Als Nächstes verständigen wir uns am besten in unserem Team auf eine Besprechung, in der wir sowohl die Schritte 1 und 2 als auch 4 gemeinsam absolvieren.

Diese sind darauf ausgerichtet, auch in Abwesenheit derjenigen, für die wir unsere Überlegungen einsetzen wollen, durch Fokussieren unserer Aufmerksamkeit, Einstimmung und Reflexion die beste Entscheidung zu treffen. Wenn Sie alleine arbeiten, können Sie entweder eine Intervisionsgruppe nutzen, um Feedback zu bekommen, oder das Journaling nutzen, also das “schreibende Nachdenken,” vielleicht in Verbindung mit einer Körperübung oder einer Meditation.

Der 3. Schritt ist vor allem für den Kontakt mit den Menschen gedacht, für die wir uns einsetzen. Gleichwohl ist es aber auch wichtig, diesen Schritt mit in den Ablauf eines Team-Gesprächs oder eine Selbstreflexion einzubeziehen. Wir müssen uns schließlich auch selbst mitfühlend behandeln, und dazu dient die Wahrnehmung eigener Gefühle und die Entwicklung der Fähigkeit, diese in unseren Überlegungen “abzufragen” oder – wie man heute manchmal sagt – “nachzuspüren.”

Ich habe dieses Modell in meiner eigenen Praxis erfolgreich in Entscheidungsprozessen eingesetzt, die beginnende oder laufende Psychotherapien betrafen, aber auch in Supervisionssitzungen, wenn es darum ging, begrenzte Ressourcen für die optimale Hilfe von Patient:innen in der Psychotherapie zu nutzen.

In welcher Weise sich dieses Modell im Gesundheitswesen auch noch einsetzen lässt, beschreibe ich in einem weiterführenden Artikel meiner Website. Dort gehe ich auch näher auf die Schwierigkeiten ein, die sich Ihnen bei der Implementierung in den Weg stellen können.

Wenn Sie also noch näher interessiert sind und den Einsatz des Modells eingehender erkunden möchten, finden Sie hier weitere Anregungen:

Weiterführende Fragen

  1. Welchen der beschriebenen Schritte des G.R.A.C.E.-Modells empfinden Sie als besonders hilfreich?
  2. Womit haben Sie eher Schwierigkeiten?
  3. Welche Erfahrungen haben Sie mit Mitgefühl in Ihrer eigenen Praxis?

Ich freue mich über Ihre Rückmeldungen, entweder als direkte Antwort auf diese Email, oder über meine Webseite.

Und jetzt: in die Praxis.

Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal, Sönke Behnsen

Quellenhinweis:

​https://www.upaya.org/2012/09/practicing-g-r-a-c-e-how-to-bring-compassion-into-your-interactions-with-others/​

Joan Halifax: Gratwanderung. Achtsame Ethik für ein nachhaltig bewusstes Leben. (2019) O.W. Barth-Verlag, München

4 Gedanken zu „Lässt sich Mitgefühl trainieren?“

  1. Lieber Sönke Behnsen,
    Schön, Ihnen auf diesem Wege wiederzubeleben!
    Ich hoffe, es geht Ihnen gut?!
    Nach der Traumaweitergabe und Auflösung habe ich ein 2.Buch über Ressourcen geschrieben: “ Aufs ganze Leben schauen! Ressourcenorientierte Anregungen zur Biographie- Erkundung“- bei Bod erschienen, vielleicht interessiert es Sie?!
    Herzliche Grüße, Ingrid Dautel

    Antworten

Schreiben Sie einen Kommentar

Index