- Haben Sie in Ihrer Aus- oder Weiterbildung gelernt, offen über eigene seelische Belastungen zu sprechen?
- Praktizieren Sie aktiv Selbstfürsorge, um sich vor negativen Auswirkungen Ihrer Arbeit zu schützen?
- Sprechen Sie mit jemand (und wenn ja: mit wem?), wenn Sie sich erschöpft von Ihrer Arbeit fühlen oder spüren, dass sie sich nicht mehr wie früher ausreichend abgegrenzt fühlen von den Problemen und Nöten Ihrer Patient*innen?
Im Jahr 1978, also vor bereits 44 Jahren, entwickelte Wolfgang Schmidbauer mit seinem “Helfersyndrom” ein Konzept, das zu einem Meilenstein in der Entwicklung von Hilfen für Helfer:innen werden sollte. Mit seinem Buch Die hilflosen Helfer: Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. schrieb er einen Bestseller in der Selbsthilfe-Literatur für helfende Berufe.
Eine Berufsgruppe, deren Seelenheil dabei seltener im Licht des öffentlichen Interesses steht, sind die Psychotherapeut:innen.
Eva Jaeggi beschrieb 23 Jahre später in ihrem 2001 erschienen Buch “Und wer therapiert die Therapeuten?” sehr eingehend die besonderen Herausforderungen des psychotherapeutischen Berufs.
Sie zeigte in der Auswertung mehrerer von ihr als Professorin selbst durchgeführter Forschungsarbeiten, dass es um die seelische Gesundheit der Psychotherapeut*innen nicht besser gestellt ist als in der Allgemeinbevölkerung.
Und heute?
Aus eigener Erfahrung als Supervisor und langjähriger Leiter einer psychotherapeutischen Ausbildungsambulanz weiß ich, wie problematisch das Thema “eigene seelische Gesundheit” für angehende Psychotherapeut*innen und bereits niedergelassene oder langjährig Praktizierende sein kann.
Sie kommen in ihren Selbsterfahrungen entweder zum ersten Mal mit den Tiefen ihrer eigenen Psyche in Kontakt, oder sie verfügen bereits über Erfahrung in einer eigenen Psychotherapie. Später bildet diese Erfahrung einen wichtigen Referenzpunkt für die Reflexion, sofern sie eine ausreichende Intensität erreichen konnte, um die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen.
Sollten Sie es als Therapeut*in also nicht am besten wissen, wie man sich seelisch gesund erhält, zufriedene Beziehungen führt und ein glückliches Leben gestalten kann?
Es widerspricht dem verbreiteten Selbstanspruch und dem Bild der Profession in der Öffentlichkeit, dass Psychotherapeut*innen ebenfalls unter seelischen Belastungen leiden und zugleich in ihrem Beruf arbeiten könnten.
Darum begegnen Viele der Selbsterfahrung mit zwiespältigen Gefühlen. In manchen Therapieverfahren hat es den Anschein, als wäre sie zu einer Art Selbstversuch degradiert, mit der man lediglich einmal im Rahmen der Aus- oder Weiterbildung am eigenen Leib erfahren solle, wie sich ein*e Patient*in fühlt.
Das ist sicher ein wichtiger Aspekt, aber bei weitem nicht der dringendste.
Doch selbst wenn es dabei um seelische Belastungen durch die eigene psychotherapeutische Tätigkeit geht, berühren wir damit ein Tabu, ein oft schambesetztes Thema.
Hier greift ein hoher moralischer Anspruch, der sich zum Leidwesen aller Beteiligten auswirkt.
Dabei suchen wir doch dringend Antworten auf die folgenden Fragen, die für die innere Balance entscheidend sind:
- Wie kann Burnout in der therapeutischen Praxis vorgebeugt werden?
- Mit wem können eigentlich Psychotherapeut*innen über Ihre Probleme sprechen?
- Was hilft Ihnen effektiv in ihrer Selbstfürsorge im beruflichen Alltag?
- Wie wirken sich seelische Belastungen auf die psychotherapeutische Arbeit mit Patient*innen aus, und wie lassen sich alle Beteiligten vor negativen Auswirkungen schützen?
Wie können Sie Burnout vorbeugen? Wege zu mehr innerer Balance im Praxis-Alltag
Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung
Nach meiner Einführung erscheint diese erste Schlussfolgerung naheliegend. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Es bedarf einer ständigen Aufmerksamkeit gerade dann, wenn
- die eigene Selbsterfahrung nur kurz war
- die daraus entwickelten Fähigkeiten der Verarbeitung seelischer Belastung begrenzt geblieben sind
- die Selbsterfahrung bereits sehr lange zurück liegt.
Um diese Aufmerksamkeit zu schulen, helfen Maßnahmen, die eine gewisse Selbstverständlichkeit im therapeutischen Alltag entwickeln konnten. Wir brauchen Routinen, idealerweise noch Gewohnheiten, mit denen wir unseren ganz persönlichen “Checkup” durchführen können.
Dazu zähle ich:
- eine eigene, regelmäßige Achtsamkeitspraxis
- ein regelmäßiges Journaling
- die selbstkritisch-wohlwollende Reflexion der eigenen Arbeit
- den Abgleich zwischen vertretbaren Belastungen die Praxis und der Lebenssituation im privaten Austausch
- den interkollegialen Austausch (Intervision) im kleinen Social Talk in der Kaffeeküche oder noch besser im Gruppengespräch eines Qualitätszirkels
Kompetente Gesprächspartner*innen im (potentiellen) Krisenfall
Vermelden Ihre so geschulten Bordinstrumente eine Zuspitzung der Situation im konkreten Einzelfall einer Behandlung oder auch im Gesamt Ihrer Praxisarbeit, dann empfiehlt es sich, Supervision in Anspruch zu nehmen.
Die Begleitung durch Supervision kann
- direkt entlastend wirken
- durch positiven Einfluss auf den Behandlungsverlauf eine indirekte Entlastungsfunktion erfüllen
- eine bestärkende Wirkung auf die selbstreflexiven Kräfte des/der Therapeut:in entwickeln
- persönliche Themen erkennen lassen, die entweder mit Patient*innen-Themen konfligieren, oder eine allgemeine, behandlungsunspezifische Belastungsquelle darstellen
Ein Coaching bietet das geeignete Setting, wenn es zum Beispiel um Fragen der Praxisorganisation oder der Selbstorganisation geht (Produktivitätsfragen, perfektionistische Selbstansprüche etc.). Der Schwerpunkt liegt hier auf Reflexion und Neuausrichtung.
Wenn Sie jedoch bemerken, dass dieser zeitlich sehr begrenzte und zielgerichtete Ansatz nicht ausreicht, um die Ursachen für eine Überlastung oder Krise zu finden, und tiefgreifende Veränderungen erforderlich sind, dann ist eine Selbsterfahrung oder Psychotherapie sinnvoll, bei Introspektion und ein intensiver Beziehungsprozess die Voraussetzungen für Transformation schaffen.
Verhalten gegenüber Ihren Patient*innen
In dieser Zeit ergibt sich dann vielleicht die Frage, wie Sie mit Ihren (seelischen) Belastungen und Grenzen gegenüber Ihren Patient:innen umgehen sollen. In der Literatur finden sich beispielhaft zwei sehr unterschiedliche Vorgehensweisen.
Eva Jaeggi
Die zuvor bereits genannte Autorin und Forscherin empfiehlt, zwischen einem funktionierenden therapeutischen Ich und einem persönlichen Ich zu spalten. Ich halte diese Empfehlung für problematisch. Sie fördert Unaufrichtigkeit nicht nur gegenüber Ihren Patient*innen, sondern auch gegenüber sich selbst, da eine solche Spaltung immer auch Auswirkungen auf Ihr Selbsterleben haben wird.
Irvin Yalom
Yalom empfiehlt dem gegenüber eine selektive Selbstoffenbarung. Er schlägt vor, Patient*innen kontextbezogen und unter aufmerksamer Berücksichtigung der Grenzen, die sich aus diesem Vorgehen ergeben, etwas von der Belastung mitzuteilen.
Die damit mögliche Entidealisierung eines makellosen therapeutischen Selbst betrachtet er als förderlich, da der/die Therapeut*in dadurch zu einem Gegenüber wird, das die Züge eines ganz normalen Menschen annimmt, auch wenn dieser in seiner Funktion als Therapeut*in erhalten bleibt, oder sogar daraus gestärkt hervorgeht. Was viele Patient*innen daran positiv erleben, ist die Glaubwürdigkeit, auch wenn damit zunächst eine Desillusionierung verbunden sein kann.
Effektive Selbstfürsorge für Psychotherapeut*innen – unabhängig von ihrem Verfahren
Praktischerweise können Sie mit den Methoden, mit denen Sie sich immer wieder einen Eindruck vom Status Ihrer inneren Balance verschaffen, auch schon eine selbstfürsorgliche Wirkung erzielen.
Achtsamkeitspraxis und Journaling als kostbare Hilfen, die Sie täglich anwenden können.
Ich praktiziere zum Beispiel Meditation nach der Vipassana-Tradition. Sie ist die buddhistische Form der Achtsamkeitsmeditation, wie sie in vielen säkularen Schulen in modifizierter Form vermittelt wird. Darüber hinaus schreibe ich regelmäßig nach der Methode der Morgenseiten von Julia Cameron. Hier gibt es jedoch auch andere, mehr standardisierte Formen.
Damit habe ich schon oft herausfinden können, wo sich Spannungen körperlich oder in schädlichen Gewohnheiten manifestiert haben, und durch geduldiges Üben wieder lösen können.
Probieren Sie bei beidem aus, was zu Ihnen selbst passt. Es gibt keine für alle empfehlenswerte Vorgehensweise, und es ist unbedingt erforderlich, dass Sie die für sich selbst beste Möglichkeit finden, damit Sie sie regelmäßig ausüben.
Suchen Sie sich eine Intervisionsgruppe, oder gründen Sie eine.
Es gibt Verzeichnisse bei den kassenärztlichen Vereinigungen und bei den Psychotherapeutischen Verbänden. Dabei suchen Sie sich entweder eine regionale Gruppe, um in Präsenz arbeiten zu können, oder eine Online-Gruppe, die in manchen Gegenden eine geeignete Alternative darstellt, oder auch bei spezifischen Fragestellungen den überregionalen Austausch ermöglicht, etwa wenn eine Gruppe sich vor allem um Behandlungsfälle mit Autismus-Spektrumstörungen befasst.
Eine besondere Form der Intervision stellen die guten alten Balintgruppen dar. Bei dieser Form des Austauschs gibt es eine Moderation durch eine:n Balintgruppenleiter:in, der/die dafür sorgt, dass das Gruppengespräch immer nach einem bestimmten Vorgehen abläuft. Das kann in vielen Fällen eine große Entlastung bilden für die Mitglieder der Gruppe, gerade wenn es um konflikthafte Fragen der Interaktion zwischen Patient:in und Therapeut:in geht.
Finden Sie Ihren Ausgleich in einem befriedigenden Privatleben
Familie – Freund*innen – Musik – Kunst – Natur – Bewegung – Spiritualität – soziales Engagement
All das hat ja erwiesenermaßen eine große Bedeutung für die innere Balance, und dient nicht nur dem Erhalt unserer körperlichen und seelischen Gesundheit, sondern ist einfach der Ausdruck eines zufriedenen und erfüllten Lebens in Verbundenheit.
Und jetzt: in die Ferien.
Mein nächster Newsletter wird zum Ende der Praxisferien erscheinen, zum Jahresbeginn voraussichtlich am 04.02.2025. Ich wünsche Ihnen und Euch eine gute Zeit um die Feiertage und zwischen den Jahren, und einen guten Jahreswechsel.
Herzliche Grüße aus Wuppertal,
Sönke Behnsen
Wunderbar!
Ich bin vor über 40 Jahren das erste Mal mit Zazen und den Zen-Buddhismus in einem Seminar in Kontakt gekommen und praktiziere Zazen leider viel zu selten. Meine zweite kleine Erleuchtung geschah bei der Lektüre von Zen Buddhismus und Psychoanalyse. Haben oder Sein von Fromm, Bodenheimers luzide Texte und nicht zuletzt Watzlawick waren weitere spannende Inspirationen. Gelernte Hilflosigkeit war ebenfalls sehr aufschlussreich. All die gerade genannten zugegebenermaßen älteren Quellen vermisse ich ein wenig in Deinen ansonsten spannenden Ausführungen. Egal: Alle aufrichtigen und friedfertigen Menschen benötigen viel Kraft das schon losgetretene destruktive Chaos psychisch auszuhalten und wir brauchen emphatische Mitmenschen, die aufmerksam in ihrem sozialen Umfeld möglichst gewaltfrei und gemeinsam versuchen ökologisch, politisch, sozial und kulturell zu retten, was zu retten ist ohne das Angenehme und Schöne als Elixier im Alltag aus dem Blick zu verlieren.
Danke für Deinen freundlichen und aufmerksamen Kommentar, lieber Bertel. Und vielen Dank für Deine Hinweise auf diese so wertvollen Quellen. Dadurch sind sie jetzt ja im Gespräch – und das ist genauso wertvoll, als wenn ich sie in meinen Texten erwähne.
Fromm und Watzlawick habe ich natürlich auch gelesen, aber Bodenheimer nicht. Was kannst Du von ihm empfehlen?
Liebe Grüße in den hohen Norden!
Sönke