Ich arbeite seit über 30 Jahren als Arzt in der Psychiatrie und Psychotherapie. In dieser Zeit habe ich ca. 30-40 Stunden pro Woche im Gespräch mit meinen Patient*innen an der Lösung ihrer Fragen und Probleme gearbeitet, Krankheiten behandelt und Krisen bewältigt.
Die damit einhergehenden Belastungen kennen Sie als Psychotherapeut*in vermutlich gut. Um dann auch nach Jahren der beruflichen Tätigkeit nicht abzustumpfen, auszubrennen oder zu resignieren, müssen Sie gut für sich sorgen.
Heute verbringe ich die Hälfte meiner Arbeitszeit mit (angehenden) psychotherapeutischen Kolleg*innen, Fachärzt*innen in Weiterbildung und erfahrenen Therapeut*innen, die mit mir in Supervisionen ihre Arbeit reflektieren. Welche Rolle spielt Selbstfürsorge für Psychotherapeut*innen in ihrem Arbeitsalltag?
Hier ist, was ich gelernt habe:
Heilsames Handeln ist immer Beziehungsarbeit
Das wichtigste Arbeitsmittel, das wir unseren Patient*innen oder Klient*innen dabei zur Verfügung stellen, sind wir selbst – mit unserer Zuwendung, unserer Präsenz und Kompetenz, unserer Beziehungsfähigkeit.
Selbstfürsorge schafft die notwendigen Voraussetzungen
Für eine exzellente Arbeit, die nicht nur für unsere Patient*innen nachhaltig ist, sondern auch für uns selbst, müssen wir uns gut um uns selbst kümmern.
Durch Selbstfürsorge gelingt es auch über eine lange Zeit, im therapeutischen Kontakt präsent zu sein.
Dazu hat sich im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Haltungen entwickelt, die die Voraussetzung für diese gelingende Selbstfürsorge bilden. Ich beschreibe sie, um Sie dazu anzuregen, Ihre eigene Selbstfürsorge zu überdenken, und vielleicht das eine oder andere Vorgehen neu auszuprobieren oder wieder aufzunehmen.
Die zehn Grundpfeiler meiner Selbstfürsorge
- eine fragende Haltung des „Nicht-Wissens“ und der Achtsamkeit
- die Reflexion meiner Erfahrungen im täglichen Schreiben
- der kollegiale Austausch in regelmäßiger Intervision
- meine tägliche Meditationspraxis
- regelmäßiger Schlaf, gerne auch am Mittag
- die Entwicklung von Selbstmitgefühl
- intensive Lebenserfahrungen auf Reisen und in der Natur
- ein regelmäßiger Bewegungsausgleich zu meiner sitzenden Tätigkeit
- bedeutsame Begegnungen in persönlichen und beruflichen Beziehungen
- eine regelmäßige Praxis
Ein paar Stichworte zu den einzelnen Punkten:
1. Die fragende Haltung des Nicht-Wissens und der Achtsamkeit
Wir müssen nicht alles wissen. Und je weniger wir wissen müssen, desto neugieriger können wir unseren Patient*innen begegnen, sie durch unsere Fragen dazu anregen, eigene Antworten und Lösungen zu finden, und sie darin unterstützen, diese in die Tat umzusetzen.
Manche Patient*innen begegnen uns mit der Erwartung, dass wir sie „behandeln“ in dem Sinne, dass wir ihre Probleme lösen. Meine Erfahrung: das funktioniert nicht. Ermutigen Sie Ihre Patient*innen stattdessen dazu, mit Ihnen zusammen bessere Fragen zu finden, statt schnelle Antworten. Das wirkt oft zunächst womöglich irritierend, aber es hilft – in den meisten Fällen.
Da, wo es nicht hilft, sind andere psychotherapeutische Methoden oft ebenfalls nicht wirksam.
2. Reflexion meiner Erfahrungen im täglichen Schreiben
Selbstfürsorgliches Schreiben ist en vogue. Versuchen Sie es mit den Morgenseiten à la Julia Cameron, oder googlen Sie „Journaling“, und Sie werden sehr rasch fündig. Ich habe mit den Morgenseiten die besten Erfahrungen gemacht. Freies Schreiben, ohne „Prompts“, drei DIN A4-Seiten lang. Ich schreibe alles auf, was mir in den Sinn kommt. Es soll keinerlei Anspruch genügen, sondern einen schreibenden Zugang zum Unbewussten ermöglichen.
Meine Erfahrung: es funktioniert. Ich praktiziere es seit 2 1/2 Jahren, mit wenigen Ausnahmen täglich. Manchmal stecke ich fest, dann beschreibe ich das. Manchmal möchte ich aufhören – auch das schreibe ich auf. Und dann fließt es wieder. Oft kristallisiert sich nach 1 1/2 Seiten ein Thema heraus. Und ich habe noch nie das Gefühl gehabt, meine Zeit vergeudet zu haben.
3. Kollegialer Austausch in der regelmäßigen Intervision
Ich sitze durchschnittlich alle zwei Wochen mit einer Gruppe von Kolleg*innen zusammen. Wir stellen einander „Fälle“ vor. Ich habe drei Gruppen, jede trifft sich alle sechs Wochen.
Der Vorteil kontinuierlicher, fester Gruppen: wir sind einander vertraut, müssen uns nichts mehr vormachen, nichts beweisen. Wir kennen unsere jeweiligen Entwicklungen und begegnen uns gegenseitig mit Respekt und Achtung.
Es ist ein bisschen wie bei guten Freundschaften: von wem, wenn nicht von unseren Freund*innen, sollten wir ein offenes, kritisches Wort erwarten dürfen?
4. Meine tägliche Meditationspraxis
Ich meditiere ungefähr so lange, wie ich täglich schreibe. Mal eine halbe, mal eine Stunde. Meistens morgens, kurz vor meinen morgendlichen Patient*innen-Terminen.
Der Erfolg? Ich fühle mich zugewandter, aufmerksam und offener. Ich nehme genauer wahr, kann leichter die Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit einnehmen. Es fällt mir leichter als sonst, nicht direkt etwas zu sagen, sondern nachzudenken, wirken zu lassen, assoziativ zu denken und mich zu fragen, „was jetzt dran ist.“
5. Erholsamer Schlaf
Dazu muss ich glaube ich nicht viel schreiben. Jede*r weiß es, viele tun es nicht – ausreichend und erholsam schlafen.
Im Laufe der Zeit habe ich für mich herausgefunden, dass mir ein Mittagsschlaf ermöglicht, die zweite Tageshälfte mit der gleichen Energie bewältigen zu können wie die erste.
Doch das ist nicht für jede*n geeignet. Es scheint große interindividuelle Unterschiede sowohl hinsichtlich des Schlafbedürfnisses als auch des Rhythmus zu geben. Um so wichtiger, das für sich persönlich geeignete Maß zu finden, um gut für sich sorgen zu können.
6. Selbstmitgefühl entwickeln
Mitgefühl für andere und Selbstmitgefühl sind zwei unzertrennliche Geschwister. Sie unterstützen sich gegenseitig und profitieren voneinander.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Forschungsliteratur ist, dass Selbstmitgefühl zu Authentizität führt, denn wenn wir für unseren Selbstwert nicht von der Anerkennung anderer abhängig sind, können wir unser wahres Selbst zum Ausdruck bringen.
Kristin Neff
Wie wir mit unseren Schwächen, unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten umgehen, hat großen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Üben Sie sich in Güte und Nachsicht! Eine der Erfahrungen, von denen unsere Patient*innen am meisten profitieren, istdie Art und Weise, wie sie uns im Umgang mit unseren eigenen Grenzen erleben.
7. Intensive Lebenserfahrungen auf Reisen und in der Natur
Auch diese Gedanken sind für Sie nichts Unerwartetes. Sie werden es aus eigener Erfahrung kennen.
Manchmal gehen Ihnen vielleicht einfach die frischen Ideen aus, manchmal fühlen Sie sich „mit sich selbst“ schal, routiniert und wenig erfrischend. Auch das kann passieren, gibt jedoch mitunter einen Hinweis darauf, dass jetzt Zeit für „etwas anderes“ als Arbeiten ist.
Ich bringe von meinen Reisen immer aufgeladene Energie- und Kreativitätsspeicher mit. Das gehört zu den am besten belegten Erfahrungen in meinem Leben.
Meine intensivsten Reiseerfahrungen habe ich in Ländern mit mir fremden Kulturen gemacht, allen voran Tansania und Nicaragua. Sich dem Unbekannten zu öffnen, einzulassen auf Unvorhersehbares und Verunsicherndes, ist erst durch ein in meinen 20ern entfachtes Reisefieber möglich geworden.
Mittlerweile reise ich eher kontinental statt interkontinental, aber dafür naturnäher, wie zum Beispiel auf Wanderungen oder mit unserem Camper, der Übernachtungen „überall und nirgendwo“ ermöglicht. Und ich merke, dass mir fremde Kulturen mitunter zuviel abverlangen, wenn ich bereits etwas zu erschöpft bin.
Wenn der nächste Urlaub noch etwas hin ist, hilft bei mir alternativ ein abendlicher Waldspaziergang oder ein Kurz-Ausflug zur Bevertalsperre, 35 Minuten von Wuppertal entfernt. Das entsprechende Wetter vorausgesetzt, schwimme ich mich in einer Viertelstunde frei von meinen Praxis-Gedanken.
8. Meinen Kopf freilaufen
Ich laufe regelmäßig querfeldein. Am liebsten in meiner Mittagspause, direkt von der Haustür aus. Auch das gibt mir (wie der Mittagsschlaf) das Gefühl, den Nachmittag mit ganz neuer Energie zu erleben. In Wuppertal profitiere ich von den schnell erreichbaren Wäldern und Feldern, die in unmittelbarer Nähe, zum Teil im Stadtgebiet, dazu einladen. Ich nenne es „Kühe besuchen.“
Mein Körper reagiert darauf mit jeder Menge frischer Hormone. Jedenfalls spüre ich die wohltuende Wirkung regelmäßiger Bewegung so intensiv, dass ich sie sehr schnell vermisse, sobald meine Pausen einmal nicht genügend Zeit dafür lassen, um wenigstens zweimal pro Woche meine Laufschuhe zu schnüren.
9. Anregende Begegnungen in persönlichen und beruflichen Beziehungen
Ich hatte es schon zum kollegialen Austausch in der Intervision beschrieben: die Verbundenheit mit anderen Menschen gehört für mich zu den bedeutsamsten Quellen selbstfürsorglicher Erfahrungen. Dabei bin ich ein eher introvertierter Mensch und tue mich gelegentlich ein bisschen schwer mit der Pflege meiner Beziehungen. Dennoch empfinde ich diesen Aspekt der Selbstfürsorge als so zentral.
Jede*r muss da natürlich das eigene Maß finden, aber nach meiner Erfahrung profitiert das eigene Wohlbefinden von befriedigenden Beziehungserfahrungen im Privatleben ebenso, wie es die Beziehungen zu meinen Patient*innen tun. Je weniger ich meine Patient*innen dafür „brauche“, desto besser. Und das gilt sowohl für das Selbstmitgefühl, als auch für die erfahrene Zuwendung durch Andere. Angewiesenheit auf Bestätigung, Anerkennung oder Wertschätzung lebt sich besser in persönlichen Beziehungen, als in der Praxis.
Und das Wichtigste zum Schluss:
10. Eine regelmäßige Praxis bildet die wichtigste Grundlage der Selbstfürsorge für Psychotherapeut*innen
Alle genannten 10 Voraussetzungen für eine gelingende Selbstfürsorge müssen immer wieder neu hergestellt werden. Zur Aufrechterhaltung einer guten inneren Balance ist eine regelmäßige Praxis erforderlich, sonst verliert sich ihre Wirkung rasch.
Das gilt sowohl für das, was in der Meditation „formale Praxis“ heißt, also das regelmäßige Üben in einer bestimmten Zeit, die wir dafür einplanen und freihalten müssen, als auch für die sogenannte „Informelle Praxis.“
Tara Brach spricht davon, dass wir deswegen praktizieren, weil wir merken, dass es uns mitunter schwer fällt, mit unserem wahren Sein in Kontakt zu sein, also mit Gefühlen und Körper und der Verbundenheit mit allem. Dann ist die formale Praxis Ausdruck unseres Bemühens, dem immer wieder nah zu kommen und es zum Teil unseres Erlebens werden zu lassen.
Um Laufe der Zeit profitiert jedoch unsere grundsätzliche Haltung davon. Dann kommt mehr eine Einstellung im Alltagsleben zum Ausdruck, aus der eine Selbstfürsorglichkeit spricht, die im Grunde zu einer Wesensart wird, mit der wir mit uns selbst und mit anderen Stück für Stück umsichtiger, sorgsamer und aufmerksamer umgehen.
In meinen Website-Beiträgen schreibe ich über verschiedene Aspekte der Selbstfürsorge, und teile meine langjährigen Erfahrungen mit Ihnen.
In meinem demnächst erscheinenden Newsletter vertiefe ich Fragen, die im Austausch mit Kolleg:innen aufkommen, sowie einzelne besonders bedeutsame und aktuelle Themen.
In meinen Mentorings und Supervisionen begleite ich Kolleg:innen in der Entwicklung einer eigenen Selbstfürsorge-Praxis.