Newsletter #15 vom 01.03.2025
Also: Ihr deutschen Psychoanalytiker tätet gut daran, nicht nur zurückzuschauen, sondern das im Erinnern Erkannte auf die augenblicklichen gesellschaftlichen Erkenntnisse und politischen Probleme anzuwenden.
Horst-Eberhard Richter (in: Psychoanalyse und Politik – Zur Geschichte der politischen Psychoanalyse)
Viele meiner Gespräche mit Patient*innen und Kolleg*innen drehten sich in dieser Woche um Fragen wie diese:
- Was brauchen wir angesichts frustrierender Wahlergebnisse und des Erstarkens politischer Kräfte, die uns gegeneinander ausspielen, die Angst schüren und Hass?
- Was benötigen wir, um nicht unsere Hoffnung zu verlieren, dass Gemeinsinn und Solidarität die Welt besser macht?
- Was hilft uns dabei, uns jetzt erst recht für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen – auch als Psychotherapeut:innen und Berater:innen, Menschen, die mit Menschen arbeiten, in psychosozialen Arbeitsfeldern?
- Welche Fähigkeiten benötigen wir, um Präsenz zu zeigen, vor Ort zu sein und an der Seite der Menschen zu stehen, die unsere Solidarität brauchen?
- Und wie gelingt es uns dabei, angesichts der zu erwartenden Belastungen durch Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, politischen Gegner*innen und – auch das gehört ja zum Engagement dazu – bündnis-internen Konflikten, nicht auszubrennen oder sich frustriert zurückzuziehen?
Die Liste ist lang, die Verunsicherung groß, und das nicht erst seit dem Wahlwochenende.
Daneben war die Angst gerade auch derjenigen Menschen spürbar, die aus Familien mit Migrationshintergrund stammen. Sie fragten sich, was sie angesichts des Rechtsrucks in Gesellschaft und Politik zu befürchten haben.
Wie gelingt es uns, in einer solchen Lage als engagierte Bürger:innen, Mitmenschen und kompetente Gesprächspartner:innen in Beratung und Therapie, als Fachkräfte für Medizin, Psychologie, Beziehungsarbeit und Kommunikation, aufmerksam zu sein und achtsam zu handeln?
Davon handelt die heutige Ausgabe meines Newsletters.
Was nun?
Das Ergebnis der Bundestagswahl kann uns resignieren lassen – oder aufrütteln.
Der Unterschied:
Im ersten Fall drohen wir, an der Entmutigung zu erkranken. Resignation, Angst und Verzweiflung sind der Nährboden für seelisches und körperliches Leiden – bei uns und bei unseren Patient:innen.
Im zweiten Fall beginnen wir vielleicht, uns mit Anderen zu verbünden und gemeinsam zu handeln, um etwas zu tun gegen die Angst, den Hass und die Ausgrenzung der Menschen untereinander.
Damit sorgen wir für die Gesundheit und das Wohl aller.
Krieg macht krank.
Armut macht krank.
Einsamkeit macht krank.
Frieden macht gesund.
Gerechte Verteilung macht gesund.
Verbundenheit und Gemeinschaft machen gesund.
Direkt oder indirekt – seelisch oder körperlich – die Folgen von Armut, Krieg und Vereinsamung sind gut untersucht. Ebenso die Auswirkungen von ethischem Verhalten, guten, Sinn stiftenden Beziehungen und befriedigender Arbeit.
So einfach ist das.
Und doch klingt alles gerade sehr kompliziert.
Wenn wir es uns bewusst machen, können wir unsere innere und äußere Widerstandskraft dagegen mobilisieren, dass der drohende Verlust gesellschaftlicher Mehrheiten für Solidarität, Frieden und Gerechtigkeit zum Rückzug und zur Isolation führt.
Was tun?
Präsenz zeigen, das kann heißen:
- Vor Ort sein.
- Wach werden.
- Achtsam handeln.
- Gleichmut entwickeln.
- Mitgefühl praktizieren.
Vor Ort sein – das kann bedeuten, sich einzumischen, auf die Straße zu gehen, um zu demonstrieren, die Menschen zu unterstützen, die in demokratischen Parteien arbeiten, den Menschen zu helfen, die auf der Straße oder auf andere Weise in Armut leben.
Wach werden, indem wir uns die Verhältnisse bewusst machen, in denen wir leben, sie auf Wohlstandsverhältnisse und Machtverteilungen hin untersuchen, um in eingehender Untersuchung Missstände zu erkennen, unsere emotionale Reaktion darauf zu spüren und uns zu entscheiden, welchen Werten wir folgen wollen.
Achtsam handeln – das kann bedeuten, zunächst wahrzunehmen, was ist, was gebraucht wird und was nötig ist. Das kann heißen, z.B. nach dem G.R.A.C.E.-Modell vorzugehen, das ich im letzten Newsletter vorgestellt habe. Das kann auch so aussehen, dass wir immer wieder uns selbst fragen, was wir beitragen können, damit die Welt ein besserer Ort wird.
Gleichmut entwickeln – das heißt, für lange Zeit auch ohne die Befriedigung erreichter Ergebnisse durchhalten zu können, mit einer Gelassenheit, die uns dabei hilft, die „Weisheit der Gleichheit“ zu kultivieren, damit wir nicht zur weiteren Spaltung unserer Gesellschaft, sondern zur Verbundenheit beitragen können. Dazu gleich mehr.
Mitgefühl praktizieren – das meint, sich in einer Weise am Gemeinwohl zu beteiligen, die getragen ist von Zuwendung und Freundlichkeit, und motiviert ist von der Bereitschaft, zu helfen. Dieses Mitgefühl zielt jedoch gleichermaßen darauf ab, dass wir uns selbst in diesem Handeln entwickeln, uns im Blick behalten, gesund bleiben oder werden.
Wie stärken wir unsere Widerstandskraft, unsere Entschlossenheit und unseren Mut?
Im Buddhismus gibt es immer wieder Listen von Fähigkeiten, Eigenschaften oder Qualitäten, die hilfreich sind, um Leiden zu lindern oder zu verhindern.
Dabei kehren bestimmte Faktoren immer wieder.
Da ist als zentrale Qualität die Achtsamkeit.
Daneben gibt es aber auch weitere, sogenannte aktivierende Faktoren wie
- Tatkraft
- eingehende Untersuchung und
- teilnehmende Freude
sowie die sogenannten stabilisierenden Faktoren
- Ruhe
- Konzentration und
- Gleichmut.
Sie sollen die Grundlage für unsere Einsicht, unsere Heilung und unser weises Handeln bilden.
Nachdem ich in meinen bisherigen Newsletter-Ausgaben über verschiedene Aspekte von Präsenz, von Achtsamkeit und Mitgefühl geschrieben habe, möchte ich mich heute dem Gleichmut als einer hilfreichen, aber noch zu erforschenden und zu entwickelnden geistigen Qualität zuwenden.
Ich habe mich lange schwer damit getan, Gleichmut zu verstehen. Die Betrachtung des Gleichmuts als einer stabilisierenden Qualität hat mir ihren Sinn wirklich erschlossen.
Gleichmut als stabilisierende Qualität
Gleichmut klingt danach, als wäre uns etwas nicht wichtig, als wüssten wir nicht, worum es geht, als wäre uns alles egal, als würden wir doch von Gleichgültigkeit geleitet, was dazu führt, dass wir uns zurückziehen und uns nur noch um diejenigen kümmern, die uns nahestehen.
Weit gefehlt.
Gleichmut kennt weder Kälte noch Gleichgültigkeit.
Er bezeichnet in der buddhistischen Tradition eine Fähigkeit des Nicht-Unterscheidens.
Gleichmut beschreibt „die vorurteilsfreie, friedliche Achtung anderer Menschen und Wesen; eine Haltung, die unvoreingenommen (aber nicht kalt oder distanziert) und frei von unfairen Beurteilungen oder Vorurteilen ist.“ (Zitat: Anderssen-Reuster et.al., Psychotherapie und buddhistisches Geistestraining, S.255)
Gleichmut gibt uns die Fähigkeit, unseren Zorn loszulassen, um die Verbundenheit der Menschen tiefer zu verstehen, als wenn wir nur darauf schauen würden, wer „zu uns gehört.“ Damit öffnet sich zum Beispiel unser Mitgefühl auch gegenüber solchen Menschen, die uns nicht nahestehen, ja sogar feindlich gesonnen sind.
Die Chance, die darin liegt, besteht in der Möglichkeit, gesellschaftliche Gräben, kulturelle Differenzen oder Vorurteile zu überwinden, und zwischen miteinander in Konflikt stehenden Gruppen Versöhnungsarbeit zu leisten.
Dazu müssen wir all unsere Aufmerksamkeit der „Verbundenheit in Verschiedenheit“ zuwenden. Dazu ist es erforderlich, sich der dualistischen Aufteilung in „gut oder böse“ oder „falsch oder richtig“ bewusst zu werden, eigene Zuordnungen zu überprüfen und die damit verbundenen (Vor-)Urteile zu erkennen.
Dabei hilft die aktivierende Qualität der „eingehenden Untersuchung“ (s.o.) genauso wie die zentrale Qualität der Achtsamkeit.
Um unser Gewahrsein, d.h. die Aufmerksamkeit und Konzentration zu entwickeln, die diese Analyse und unser daraus erwachsendes, gesellschaftliches Engagement erfordert, benötigen wir sowohl die aktivierenden als auch die stabilisierenden Qualitäten.
Als ein Ergebnis dieser Untersuchungen, die zu besonnenem Handeln beitragen und uns die dafür nötige Gelassenheit schenken – beides übrigens Aspekte des Gleichmuts – gilt die Erkenntnis, dass wir mit allen und allem verbunden sind.
Gerne fühlen wir uns mit Menschen verbunden, die uns vertraut sind und denen wir nah sein möchten. Dass diese Verbundenheit aber auch allen anderen gilt, dass wir dabei nicht wählen können (und auch nicht sollten) fällt mir oft schwer, anzuerkennen.
Dennoch habe ich verstanden, dass genau diese Fähigkeit, sich verbunden zu fühlen, von der tiefen Einsicht profitiert, dass diese Verbundenheit nicht etwa heißt, unkritisch zu denken oder alles geschehen zu lassen. Dazu ein kleiner Exkurs in die tiefe philosophische Grundbedeutung der Verbundenheit.
Non-Dualismus oder die Fähigkeit, sich verbunden zu fühlen
Im Buddhismus sprechen wir von der Weisheit der Gleichheit, d.h. der Fähigkeit, alle Menschen als gleich zu betrachten, und keinen Unterschied zwischen uns selbst und anderen zu machen.
Dabei spielt das Konzept des Non-Dualismus eine zentrale Rolle. Dieses Konzept steht hinter der grundlegenden Vorstellung von „Nicht-Selbst“ oder auch Selbstlosigkeit. Darin kommt diese tiefgründige Verbundenheit allen Lebens zum Ausdruck.
Nicht-Selbst besagt, dass es ein separates, von anderen getrenntes, unabhängiges und aus sich selbst verständliches Selbst nicht gibt.
Alles Sein ist „In-Beziehung-Sein.“ Wenn der oder die Andere leidet, dann leiden wir auch, auf die eine oder andere Weise, direkt oder indirekt, jetzt oder später.
Wenn es dem oder der Anderen gut geht, dann geht es uns auch gut. Weil wir miteinander untrennbar verbunden sind.
Wenn wir uns dadurch in unserem Engagement gestärkt fühlen, uns mit Menschen zu verbinden, die gesellschaftlichen Spaltungsvorgänge zu überwinden und uns für Randgruppen, Benachteiligte und Abgehängte einzusetzen, dann können wir sicher sein:
Dadurch wird der Angst und der Unzufriedenheit der Nährboden entzogen, der die Saat des Hasses, des Neids und der Gier aufgehen und wachsen lässt.
Zugleich können wir dann auch Menschen entgegentreten und uns ihnen in den Weg stellen, die andere in Gefahr bringen, sie bedrohen, ihnen Angst machen, sie ihrer Lebensgrundlagen berauben oder ihnen das Leben zu nehmen drohen.
Auch das gelingt aus der Haltung der Verbundenheit heraus mit einem anderen Ergebnis, als wenn wir ihnen als Feinde begegnen würden. Wir erkennen an, dass auch in uns Impulse oder Bestrebungen vorhanden sind, mit denen wir anderen etwas neiden, sie benachteiligen oder ihnen etwas wegnehmen – entweder direkt oder indirekt. Wir sind dadurch keine grundsätzlich „besseren Menschen“ als die Anderen, sondern haben allenfalls bereits erkannt, dass ein solches Handeln allen schadet, auch uns selbst.
Gleichmut und Mitgefühl
Wie geht es nun zusammen, dieser Gleichmut, mit den so dringend gebrauchten Qualitäten des Mitgefühls, der teilnehmenden Freude und der Freundlichkeit?
Als stabilisierende Qualität bedeutet Gleichmut, dass wir uns nicht vom Ergebnis unserer Bemühungen abhängig fühlen, sondern das „Tun als solches“ zur Triebfeder unseres Handeln machen, weil wir für uns zu der Einsicht gelangt sind, dass es richtig ist.
Wir vertrauen auf den Prozess, darauf, dass es einen wesentlichen Unterschied macht, zu handeln und nicht tatenlos zuzusehen, und auf der Seite derjenigen zu stehen, die unser Mitgefühl und unsere Solidarität benötigen.
Und dann verhilft uns Gleichmut dazu, die Gelassenheit zu entwickeln, mit der wir „vom Sprint zum Marathon“ übergehen. Mit etwas Training können wir lange Distanzen überwinden, ohne auf der Hälfte der Strecke aufzugeben, erschöpft zusammenzubrechen oder uns zu verausgaben.
Wenn wir die Grenzen unserer Fähigkeit zu helfen nicht verstehen, werden wir uns in etwas hineinsteigern, indem wir unsere Fähigkeiten überbewerten und den Klienten Versprechungen machen, die wir nicht halten können.
Paul Fulton
Ohne den Gleichmut drohen teilnehmende Freude, liebende Güte und Mitgefühl vereinnahmend zu werden, grenzenlos und erschöpfend.
Darum sind diese drei liebenden Qualitäten im Buddhismus mit dem Gleichmut zusammengefasst als die vier grenzenlosen Geisteszustände bekannt. Sie ermöglichen uns im Verbund, in besonnener Weise zu fühlen und zu handeln.
Lässt sich Gleichmut trainieren?
Diejenigen von Ihnen, die meinen Newsletter schon seit einiger Zeit lesen, kennen diese Frage. Eigentlich müsste ich sie mittlerweile etwas anders stellen, denn ich denke dabei weniger an das „immer besser werden,“ sondern an das üben im Sinne von „ausüben,“ also ans Praktizieren.
Deswegen heißt mein Newsletter auch „Praxis der Präsenz.“
Wenn wir Gleichmut praktizieren wollen, brauchen wir dennoch etwas Erfahrung darin, diese Haltung einzunehmen. Die erwerben wir jedoch nur dadurch, dass wir sie praktizieren.
Learning by doing eben.
Und das geht z.B. folgendermaßen
- Vergegenwärtigen Sie sich. Gathering Attention – das finden Sie auch im G.R.A.C.E.-Modell.
- Werden Sie sich bewusst. Recalling Intention – wiederum: das R. von G.R.A.C.E.
- Spüren Sie Ihre Verbundenheit. Attuning to Self and Other – das A.
- Akzeptieren Sie Ihre Begrenzheit. Engagement AND Ending. Das E. bringt es zu Ende.
Diese ganz praktische Herangehensweise verdeutlicht, welche Möglichkeiten sich uns eröffnen, wenn wir immer wieder kurz innehalten und uns vergegenwärtigen, uns bewusst werden, uns verbinden und unsere Begrenztheit wahrnehmen. Dieses Innehalten zu kultivieren, tut uns und der Sache gut, lässt uns entschiedener, mutiger und widerstandfähiger werden und handeln, und anerkennen, wann wir aufhören müssen.
Meditation mit Gleichmut
In der sogenannten Metta-Meditation, einer in der westlichen Vipassana-Tradition weiterentwickelten Meditationsform des Theravada-Buddhismus, wird das Mitgefühl entwickelt. Gleichermaßen können Sie sich auch bewusst der Verbundenheit zuwenden, die in der „Weisheit der Gleichheit,“ also dem Gleichmut liegt. Und die Besonnenheit und Gelassenheit zu kultivieren, das ist ebenfalls leichter in der Meditation.
Ich meine damit nicht nur die Entspannungsmeditation, sondern vor allem die Einsichts-Meditation, die dazu dient, tiefer zu schauen in die Bedingtheit unserer Existenz.
Wenn wir uns dieser Qualitäten unseres Seins häufiger bewusst werden, gewinnt unser Handeln und unser gesellschaftliches Engagement an Intensität und Tiefe, und kann zugleich mit den Grenzen des Möglichen in Einklang stehen.
Und jetzt: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen
Lieber Sönke, danke für diese Themenauswahl, die leider so gut zum Geschehen dieser Wochen und Tage passt.
„Wenn der oder die Andere leidet, dann leiden wir auch, auf die eine oder andere Weise, direkt oder indirekt, jetzt oder später.“ – und dann nicht ausbrennen oder selbst erkranken oder resignieren! Gerne würde ich noch mehr dazu lesen von Dir.
Jetzt freue ich mich erst mal auf das Aus-Üben Deiner heutigen Impulse!
Liebe Barbara, vielen Dank für Deine positive Resonanz. Ich freue mich auch über Deine Bestärkung, zu dem von Dir zitierten Absatz weitere Gedanken zu formulieren. Eben las ich noch ein weiteres Kapitel in dem Buch „Psychoanalyse und Politik“ von Horst-Eberhard Richter, und fand ein Zitat, dass ich so passend fand, dass ich es der Archiv-Version dieser Newsletter-Ausgabe vorangestellt habe. Den deutschen Psychoanalytiker*innen „ins Stammbuch geschrieben,“ wie man sagen könnte.