Was bedeutet freies Assoziieren heute?

Graben sich Psychoanalytiker mühsam zum Unbewussten vor wie Archäologen?

Dient freies Assoziieren dem Aufdecken des Verborgenen, das in den tiefen Schichten vorzeitlicher Ausgrabungen zu entdecken ist?

Was hat sich hier getan seit Sigmund Freud?

Graben oder Öffnen?

Heben wir den Schatz eines verborgenen Wissens aus der Vergangenheit?

Oder (re-)konstruiert sich Erinnerung an ein Früher erst in der Gegenwart?

Wir haben mehr Erinnerungen AN die Kindheit als Erinnerungen AUS der Kindheit.

Aber wie öffnet sich dann der Zugang zum Unbewussten? Auch wenn Patient*innen manchmal mit der Vorstellung kommen, „geknackt“ werden zu müssen:

Psychoanalyse heißt heute

➡️ Arbeiten in der haltenden Funktion der analytischen Beziehung.

➡️ gemeinsame Sinn-Stiftung in der Präsenz des Anderen.

➡️ Erfahrung im Hier und Jetzt der Übertragung.

➡️ Nicht-Wissen und Lernen aus Erfahrung.

Freies Assoziieren wird zum Teil eines Prozesses, in dem sich Beziehung konstituiert.

Damit entstehen auch die Frage nach der Rolle des Selbst:

  • Gibt es ein wahres, verschüttetes Selbst, das wir entdecken oder verwirklichen müssen?
  • Oder besitzen wir ein vielschichtiges, veränderliches Selbst, das sich in der Beziehung immer neu konstituiert?

Manche Psychoanalytiker*innen stellen heute die Existenz eines unabänderlichen und getrennten Selbst in Frage, wie die buddhistische Lehre es in ihrem Konzept des Nicht-Selbst seit 2500 Jahren vertritt.

Warum ist das wichtig?

Menschliches Sein istInBeziehungSein.“

Das heißt heute für Viele:

  • sich mit Familienverhältnissen auseinanderzusetzen, in denen es an Nähe mangelt
  • Einander als Rival*innen um Wohlstand und Anerkennung zu begegnen
  • Einsamkeit zu erfahren inmitten vereinzelter Individuen

Damit Veränderung und ein Lernen aus Erfahrung möglich wird, braucht es jedoch Verbundenheit und Verlässlichkeit:

  • In der analytischen Psychotherapie, die einen breiten Raum für die Bewältigung schwerer Traumatisierungen und Entwicklungsstörungen bietet.
  • In der tiefenpsychologischen Psychotherapie, in der das Alltagsgeschehen fokussiert und alternative Wege zur Konfliktverarbeitung erarbeitet werden.
  • In der analytischen Gruppentherapie, in der die Matrix der Gruppe eine transformative Funktion erhält.
  • In psychodynamischen Therapieverfahren wie der Katathym-Imaginativen Psychotherapie, bei der gefühlsgeleitete Bilder im psychotherapeutischen Dialog erfahrbar werden.

Das Vorgehen:

Keine Ausgrabungen mehr, sondern dynamische Ko-Kreation von Erfahrungen. Keine wissende Führung mehr, sondern gemeinsame Orientierung. Kein Kompetenzgefälle mehr, sondern Öffnen und Spüren.

Das trifft auf Widerstände und Ängste, die gemeinsam bearbeitet werden.

Der Vorteil:

Hier wird nichts beschleunigt, verschlankt oder optimiert.
Stattdessen gibt es viel Zeit, Tiefe, Zuwendung, und
Raum für Belastendes, für Unsicherheit und Angst.

So kann sich im Laufe der Zeit ein Bewusstsein entwickeln für die eigene Kompetenz in der Bewältigung früherer Erfahrungen, die sich in Erinnerungsspuren äußert, und neuer Herausforderungen, die im Hier und Jetzt unsere Aufmerksamkeit benötigen.

Damit ist freies Assoziieren heute als Ausdruck des wachsenden Bewusstseins auch ein Zeichen für Heilung „im Prozess“ der Erfahrung, und nicht mehr nur eine therapeutische Technik, die dem Aufdecken des Verborgenen im Unbewussten dient, wie es zu Zeiten Sigmund Freuds der Fall war.

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