Newsletter #3 vom 28.09.2024
Die Schlagzeile meiner Website spricht von der „Achtsamkeitspraxis eines Psychoanalytikers“.
Doch im Text taucht mehrfach auch die buddhistische Psychologie oder die buddhistische Praxis auf.
Geht es hier um Religion oder Glauben?
Achtsamkeitstechniken sind doch mittlerweile Bestandteil therapeutischer Methoden, die nichts mit Buddhismus zu tun haben, und wissenschaftlich gut untersucht sind?
Warum also schreibe ich nicht nur über Achtsamkeit, so wie es in manchen psychotherapeutischen Einsatzbereichen üblich ist?
Buddhistische Psychologie als zusammenhängendes Theoriesystem
Die buddhistische Psychologie bietet neben der Achtsamkeit einige weitere Konzepte, die aufeinander bezogen sind und eine ganze Reihe von weiteren Möglichkeiten für die therapeutische Arbeit bieten.
Zu diesen Konzepten gehören die heute bereits gut erforschten, und weiterhin intensiv untersuchten Eigenschaften des Mitgefühl und Selbstmitgefühls, des Gleichmuts bzw. der Gelassenheit, der liebenden Güte und der Großzügigkeit.
- Untersuchungen von Menschen mit strukturellen Störungen, die Achtsamkeitsmeditation üben, zeigen, dass diese dazu neigen, die durch Achtsamkeit besser wahrnehmbaren negativen Selbstaspekte besser verarbeiten können, wenn sie die Achtsamkeitstechniken mit Übungen ihres Selbstmitgefühls kombinieren. Ansonsten können sie in Gefahr geraten, sich selbst zu verurteilen, Scham- und Schuldgefühle entwickeln und im schlimmsten Fall an depressiven Selbstwertkrisen erkranken.
- Neben dem Mitgefühl wird in der zeitgenössischen Vipassana-Meditation liebende Güte als eine der vier sogenannten brahma-viharas gelehrt und geübt. Sie gehört zu den sogenannten Herzensmeditationen, die die Fähigkeit fördern sollen, in sozialen Situationen Verbundenheit statt Konkurrenz oder hinderliche Haltungen wie Gier, Neid oder Geiz zu entwickeln.
- Gleichmut gilt manchen als der aktive Teil der Achtsamkeit, mit dem wir der Realität begegnen können, wenn wir in Gelassenheit akzeptieren, was wir nicht ändern können, und unser Herz nicht an das Ergebnis unserer Bemühungen hängen.
Isoliert eingesetzt, verliert Achtsamkeit zunehmend ihre Wirkkraft, die sie im Kontext dieser buddhistischen Psychologie hat. Mitunter kann sie sogar belastende Eigenschaften entwickeln, wenn sie – wie oben illustriert – zum Beispiel ohne Mitgefühl geübt wird.
Nur dann, wenn wir ihre Wirksamkeit wissenschaftlich untersuchen wollen, kann es sinnvoll sein, sie zu isolieren. Das liegt in der Natur der üblichen, naturwissenschaftlich geprägten Erforschung selbst. Diese Forschung versucht, ihren Untersuchungsgegenstand auf so wenige Variablen wie möglich zu reduzieren, um ihre Hypothesen daran zu überprüfen.
Auch das lässt sich wissenschaftskritisch diskutieren. Aber belassen wir es vorläufig einmal bei diesem begründeten Fall, in dem eine isolierte Betrachtung sinnvoll sein kann.
Ethisches Handeln in der buddhistischen Tradition
Achtsamkeit ist eines der Glieder des“Edlen Achtfachen Pfades“, einer Anleitung zu ethischer Lebensführung, die im Buddhismus als Weg zur Überwindung des Leidens beschrieben wird.
Thich Nhat Hanh, ein Zen-Meister, von dem ich viel über buddhistische Psychologie gelernt habe, schreibt, dass jedes Element dieses achtfachen Pfades aufeinander verweist und alle anderen sieben Elemente in sich trägt.
Und er sagt auch, dass Achtsamkeit, die aus dem Kontext dieser buddhistischen Anleitung herausgelöst wird und lediglich als Technik zur Entspannung dient, keine Achtsamkeit mehr im Sinne des buddhistischen Ursprungskonzepts ist.
McMindfulness oder die neue Religion des Kapitalismus
In der westlichen Psychologie hat Achtsamkeit mittlerweile ihren festen Platz. Doch je mehr sie von dieser Psychologie adaptiert wird, desto mehr wird aus einer tiefen und vielschichtigen Haltung ein Entspannungsverfahren wie Autogenes Training oder Funktionelle Entspannung nach Jacobson. Nichts ist gegen Entspannung einzuwenden, aber darauf reduziert, fehlt es der Achtsamkeit bald an Tiefe und Reichweite.
Sie teilt dieses Schicksal im Übrigen mit der Meditation als einer der grundlegenden Methoden der buddhistischen Psychologie, mit denen das Bewusstsein trainiert werden kann.
Achtsamkeit im Sinne dieser vereinfachenden westlichen Adaptation, die sich ohne Probleme als Titel für Lifestyle-Magazine eignet, wird von Kritikern auch als „Neue Religion der Leistungsgesellschaft“ oder des Kapitalismus bezeichnet. Ronald Purser, Autor des gleichnamigen Buches, prägte dazu den Begriff der „McMindfulness.“
Dabei haben bedeutsame Vertreter:innen des Buddhismus nichts gegen eine Säkularisierung einzuwenden. Im Gegenteil. Der Dalai Lama spricht z.B. von Buddhismus als einer Wissenschaft des Geistes.
Jedoch geht es hierbei darum, sich der kritischen Bewertung der in buddhistischen Lehrtexten beschriebenen Konzepte gegenüber zu öffnen, statt sie als einfache Rezepte zu verwenden, wie sich positive Eigenschaften stärken lassen, ohne die emanzipatorische Kraft der Befreiung von Ansprüchen und Erwartungen zu kultivieren. Das aber ist das Ziel des buddhistischen Geistestrainings.
Es geht um Befreiung.
Eine der dazu passenden Aussagen von Siddhartha Gautama, der als der historische Buddha gilt, besagt: „Glaubt nichts, sondern überprüft es selbst.“ Damit lässt sich erahnen, dass es sehr unterschiedliche Verständnisse des Buddhismus gibt.
Wenn ich heute darüber schreibe, warum ich die Achtsamkeitspraxis als Teil des Theoriegebäudes der buddhistischen Psychologie verstehe, dann geschieht das als Ausdruck einer persönlichen Klarstellung, die der Präzisierung und Profilschärfung dient. Je nachdem, wie wir Achtsamkeit konzeptualisieren, landen wir eben bei Haltungen und Verwendungen, die sich mitunter sehr voneinander unterscheiden.
Von der Scheu, über Buddhismus und Psychotherapie zu schreiben
Immer wieder empfinde ich eine Scheu, wie ich sie auch bei manchen anderen Autor:innen bemerkt habe, wenn sie zur Rolle der Achtsamkeit in der Psychotherapie als Teil der buddhistischen Psychologie schreiben oder dazu interviewt werden, welchen Stellenwert buddhistische Psychologie für ihr psychotherapeutisches Handeln hat.
Beispielhaft möchte ich hier zwei namhafte Autorinnen nennen.
Ulrike Anderssen-Reuster, Chefärztin einer Psychosomatischen Klinik in Dresden und eine der renommiertesten Autorinnen zum Thema in Deutschland, sagt in einem Interview mit psy.life:
„Die tägliche Klinikarbeit ist nicht vom Buddhismus beeinflusst. Hier verstehe ich mich als wissenschaftlich denkende Psychosomatikerin und Psychotherapeutin, der es darum geht, die verschiedenen Patienten bestmöglich und nach den Regeln der Kunst zu behandeln.“
Im Kontext des übrigen Interviews wirkt das auf mich so, als müsse sie klarstellen, dass sie religiös neutral arbeitet.
Das scheint mir vor dem Hintergrund der Maxime der sogenannten technischen Neutralität nachvollziehbar, zumal sie dann bald darauf weiter ausführt: „Implizit spielen allerdings bestimmte buddhistische Ansätze (…) eine große Rolle.“
Es geht ihr also augenscheinlich um eine Differenzierung, die sicherlich insbesondere auch in Deutschland wichtig ist, wenn man bedenkt, dass es im organisierten Buddhismus intensive Versuche gibt, sich als Religion zu etablieren, um in den Vorzug der in Deutschland durch den besonderen Schutz der Religion begründeten Vergünstigungen zu gelangen.
Luise Reddemann, eine Psychoanalytikerin und Spezialistin für Traumatherapie, ehemalige Chefärztin einer psychosomatischen Klinik in Bielefeld, schreibt auf ihrer Internetseite:
„Seit 1972 meditiere ich und begann nach meiner Begegnung mit Sylvia Wetzel im Jahr 1995, kontinuierlich Elemente der buddhistischen Psychologie in meinen therapeutischen Ansatz zu integrieren. Achtsamkeit, Mitgefühl und das Konzept eines heilen Kerns („Buddha-Natur“) spielen daher eine wichtige Rolle und ich verbinde die psychodynamische Arbeit mit diesen Elementen.“
Bei ihr finden wir ein etwas mutigeres Votum für die Integration der buddhistischen Psychologie in die therapeutische Arbeit.
Nun sollten wir sagen, dass diese Beispiele jeweils aus dem Kontext ihres Entstehens zu bewerten sind, und nicht verallgemeinernd als Gesamthaltung beider Autorinnen bewertet werden sollten.
Dennoch spielt eine solche „Erklärung“ eine bedeutsame Rolle.
Buddhistische Konzepte im Spiegel moderner psychologischer Lehren
Ich betrachte es mittlerweile als enorme Bereicherung, wenn ich in meinen Arbeiten genauer über die Verbindung von Achtsamkeit und buddhistischer Psychologie schreiben kann, und meine Erfahrungen damit weiter wachsen.
Ich sehe Achtsamkeit im Kontext bedeutsamer Konzepte der buddhistischen Psychologie, wie Mitgefühl, ethischer Verantwortung und Akzeptanz, als ein wirksames Bewusstseinstraining, das unsere Aufmerksamkeit schult, ohne zu bewerten.
Achtsamkeit bildet für mich ein Fundament für wache Präsenz, für die Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, wenn ich hinter der Couch sitze, und für das Konzept der psychischen Flexibilität, die eine wichtige Voraussetzung für die Überwindung neurotischer Entwicklungen bildet.
Viele der in den alten buddhistischen Lehrtexten verwendeten Begriffe korrespondieren sehr gut mit modernen psychologischen Konzepten.
Gute Anhaltspunkte dafür finden sich auch in einer breiten Palette fundierter Fachliteratur, wie dem Buch „Psychotherapie und buddhistisches Geistestraining“ von Anderssen-Reuster, Meibert, und Meck, oder in der umfangreichen Sammlung „Advances in Contemplative Psychotherapy,“ herausgegeben von Loizzo, Brandon, Wolf und Neale.
Ich vergleiche in meinen eigenen Texten Mitgefühl, Mitfreude und liebende Güte mit dem, was wir als „Social Skills“ kennen. Das scheint mir ein gutes Beispiel zu sein für die „moderne Version“ dessen, was wir in den vielen Weisheitstraditionen schon seit Jahrhunderten schon seit Jahrhunderten als mögliches Modell eines gedeihlichen Miteinanders kennen.
Weitere Beispiele:
- Gleichmut und Akzeptanz sind verwandet mit den Konzepten der Resilienz, Ambiguitätstolerant und Antifragilität.
- Moderne Beziehungskonzepte spiegeln Aspekte der Verbundenheit wider, die sich im buddhistischen Begriff der „Leere“ finden. Leere steht hierbei für ein komplexes Verständnis des „Entstehens in wechselseitiger Abhängikeit“ bzw. „Leerheit von einem eigenständigen Selbst,“ dessen Tragweite bis in die Physik und die Neurowissenschaften hineinreicht.
Bilden Sie sich doch bitte selbst eine Meinung dazu, liebe:r Leser:in, wie Sie meine Haltung bewerten, indem Sie meine Arbeiten zur Selbstfürsorge, zur Achtsamkeit in der Vergangenheitsbewältigung der Tiefenpsychologie oder zur fragenden Haltung als Merkmal der Präsenz lesen. Und wenn es Sie zum Nachdenken anregt, freue ich mich über Ihre Rückmeldungen.
Frei nach Siddhartha Gautama, dem historischen Buddha:
„Glauben Sie nichts, sondern überprüfen Sie es selbst.“