Einleitung
Die Arbeitssituation in Kliniken, Pflegeeinrichtungen und -diensten, Arztpraxen ist gekennzeichnet durch besonders hohe Anforderungen an die dort Arbeitenden:
- Fachlich und menschlich hohe Ansprüche gibt es auch in anderen Arbeitsfeldern. Hier steht jedoch der hohe Anspruch im Kontext der Aufgabe, Menschen in oft lebensbedrohlichen, zumindest jedoch von erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und einem entsprechend hohen Hilfebedarf geprägten Situationen zu behandeln, pflegerisch zu versorgen und zu begleiten.
- Personalengpässe können nur sehr begrenzt durch Ressourcenallokation, also die gezielte Umsteuerung von Fachkräften auf unterbesetzte Bereiche, kompensiert werden, ohne dass an anderen Stellen Einbußen in der Versorgungsqualität riskiert werden. Das bedeutet, dass die anfallende Arbeit häufig auf weniger Schultern verteilt wird, als die Bedarfsplanung es vorgibt, was zu Lasten der Mitarbeiter*innen und Patient*innen geht.
- Menschen in helfenden Berufen sind in besonderem Maß Grenzsituationen ausgesetzt, in denen bei unzureichender Bewältigung durch professionelle Begleitung vor allem über längere Zeit besondere individuelle Überlastungsreaktionen drohen.
Roshi Joan Halifax, Medizin-Anthropologin und Äbtissin des Upaya Zen Center in Santa Fé, New Mexico (USA), bezeichnet diese Reaktionen in ihrem Buch „Gratwanderung“ als „Absturz vom Grat“:
1. Moralisches Leiden (Empörung über Missstände, Hadern mit Ungerechtigkeit etc.)
2. Pathologischer Altruismus (Einsatz aus persönlichen Motiven, die mit der Gefahr der Manipulation verbunden sind)
3. Verlust von Respekt und Mitgefühl
4. Nachlassendes Engagement und innere Kündigung
5. Burnout
Gegen diese Gefahren hilft
- die eingehende Erforschung der dazu führenden Ursachen
- die Beseitigung struktureller Defizite zu beseitigen, die zu Lasten des Personals und letztlich der Patient:innen gehen
- die Stärkung der betroffenen Fachkräfte durch angemessen Schulung und Unterstützung, um sich selbst vertreten zu können und solidarisch zu handeln.
Darüber hinaus ist es jedoch im Gesundheitswesen oft auch schon unter regulären Arbeitsbedingungen notwendig, besondere Strategien zu entwickeln, um förderliche Voraussetzungen für ein gesundes Arbeiten mit Patient:innen und zu Pflegenden auch über einen langen Zeitraum zu ermöglichen.
Das GRACE-Modell, entwickelt von Roshi Joan Halifax, ist ein praktisches Werkzeug, das Pflegekräften und anderen Fachkräften im Gesundheitswesen hilft, Mitgefühl in ihre Interaktionen mit Patient*innen zu integrieren.
Ich habe mich mit diesem Modell eingehend beschäftigt, als ich auf der Suche nach Einsatzmöglichkeiten für Achtsamkeit und Mitgefühl in der Arbeit mit Fachkräften im Gesundheitswesen war. Neben dem oben zitierten Buch von Joan Halifax habe ich einen aufgezeichneten Online-Kurs von Halifax zum Modell besucht sowie ein mehrtägiges Online-Live-Seminar am Upaya-Center besucht.
Die nachfolgenden Ausführungen gehen sowohl auf diese eigenen Fortbildungen zurück, als auch auf die in der Fußnote zusammengestellte Literatur.
GRACE – ein wirkungsvolles Modell für mehr Mitgefühl und Achtsamkeit im Gesundheitswesen
Das Modell besteht aus fünf Schritten, die als Akronym G.R.A.C.E. zusammengefasst sind:
- Gathering Attention (Aufmerksamkeit sammeln): Dies bedeutet, sich zu fokussieren, zu erden und ins Gleichgewicht zu bringen. Es geht darum, sich bewusst Zeit zu nehmen, um sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren, Ablenkungen zu minimieren und mentalen Lärm zu reduzieren. Dies kann durch Atemübungen oder das Fokussieren auf körperliche Empfindungen wie die Atmung oder die Füße erreicht werden[4][5].
- Recalling Intention (Absicht erinnern): Hierbei geht es darum, sich an die Motivation und den höheren Zweck der eigenen Handlungen zu erinnern. In einem hektischen Arbeitsumfeld kann es leicht passieren, dass man den tieferen Sinn seiner Arbeit aus den Augen verliert. Sich regelmäßig an die eigenen Kernwerte und die Motivation zu erinnern, kann helfen, jede Begegnung bedeutungsvoller zu gestalten[4][5].
- Attuning to Self/Other (Sich selbst und andere einstimmen): Dies bedeutet, sich emotional zu kontrollieren und dann die volle Aufmerksamkeit auf die Person zu richten, mit der man interagiert. Es geht darum, aktiv zuzuhören, die Körpersprache zu beobachten und alle nonverbalen Zeichen wahrzunehmen, um ein vollständiges Verständnis für die Bedürfnisse und Gefühle des Gegenübers zu entwickeln[4][5].
- Considering (Überlegen): In diesem Schritt wird überlegt, was wirklich hilfreich für die Person ist. Es geht darum, offen zu bleiben und die Situation gründlich zu analysieren, anstatt sich auf erste Ideen oder gewohnheitsmäßige Reaktionen zu verlassen. Dies erfordert die Nutzung von Wissen und Erfahrung, um die bestmöglichen Handlungen zu bestimmen[4][5].
- Engaging (Handeln) und Ending (Beenden): Der letzte Schritt besteht darin, auf der Grundlage der vorherigen Überlegungen zu handeln. Dies bedeutet, ethisch und einfühlsam zu handeln und die Interaktion dann zu beenden[4][5].
Anwendung im Gesundheitswesen
Das GRACE-Modell kann im Gesundheitswesen auf verschiedene Weise eingesetzt werden:
- Stressbewältigung und Burnout-Prävention: Pflegekräfte und andere Fachkräfte im Gesundheitswesen arbeiten in stressigen Umgebungen. Das GRACE-Modell bietet ihnen eine strukturierte Methode, um in besonders belastenden Situationen zentriert und mitfühlend zu bleiben, was zur Prävention von Burnout und sekundärer Traumatisierung beitragen kann[4][5].
- Verbesserung der Patientenversorgung: Durch die Anwendung des Modells können Pflegekräfte ihre Fähigkeit verbessern, sich in die Lage der Patienten zu versetzen und deren Bedürfnisse besser zu verstehen. Dies kann zu einer empathischeren und effektiveren Patientenversorgung führen[4][5].
- Förderung von Mitgefühl: Das Modell hilft Pflegekräften, Mitgefühl in ihre täglichen Interaktionen zu integrieren, was nicht nur die Qualität der Patientenversorgung verbessert, sondern auch das Wohlbefinden der Pflegekräfte selbst steigert[4][5].
Insgesamt bietet das GRACE-Modell eine einfache, aber wirkungsvolle Methode, um Mitgefühl und Achtsamkeit in die Arbeit im Gesundheitswesen zu integrieren, was sowohl den Patienten als auch den Pflegekräften zugutekommt.
Potenzielle Anwendungsfelder in der ambulanten und stationären Psychotherapie
- Selbstfürsorge und Burnout-Prävention: Psychotherapeut:innen arbeiten oft in emotional belastenden Situationen. Das GRACE-Modell kann ihnen helfen, sich selbst zu zentrieren und Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln, was zur Prävention von Burnout beitragen kann.
- Verbesserung der therapeutischen Beziehung: Die Schritte des Modells, insbesondere das Einstimmen auf sich selbst und andere sowie das bewusste Überlegen, können die Fähigkeit der Therapeut:in verbessern, eine mitfühlende Verbindung zu ihren Klient:innen aufzubauen.
- Umgang mit schwierigen Therapiesituationen: In herausfordernden Momenten kann das Modell Psychotherapeut:innen unterstützen, zentriert zu bleiben und bewusst zu handeln, anstatt reflexartig zu reagieren.
- Supervision und Intervision: Das GRACE-Modell kann als Rahmen für Reflexion und Diskussion in Supervisions- oder Intervisionssitzungen dienen, um die Qualität der therapeutischen Arbeit zu verbessern.
- Ausbildung von Psychotherapeut*innen: Das Modell kann in die Ausbildung integriert werden, um angehenden Therapeut:innen eine strukturierte Methode zur Entwicklung von Mitgefühl und Achtsamkeit in ihrer Praxis zu vermitteln.
- Ethische Entscheidungsfindung: Die Schritte des Modells, insbesondere das Überlegen und Einbeziehen, können Psychotherapeut*innen bei ethischen Dilemmata unterstützen.
- Verbesserung der Selbstreflexion: Das Modell kann Psychotherapeut:innen helfen, ihre eigenen Reaktionen und Gefühle in der Therapie besser wahrzunehmen und zu verstehen.
Welche Herausforderungen gibt es bei der Implementierung des GRACE-Modells im Gesundheitswesen?
Bei der Implementierung des GRACE-Modells im Gesundheitswesen können verschiedene Herausforderungen auftreten:
- Zeitmanagement: In einem hektischen Arbeitsumfeld kann es für Pflegekräfte und medizinisches Personal schwierig sein, die nötige Zeit zu finden, um die einzelnen Schritte des GRACE.-Modells bewusst umzusetzen. Besonders das Sammeln der Aufmerksamkeit und das achtsame Einstimmen auf sich selbst und andere erfordern Zeit und Ruhe, die im Klinikalltag oft knapp bemessen sind.
Hier hilft nur, die Grundvoraussetzungen am Arbeitsplatz zu verbessern und die Grundlagen für die sichere Anwendung im Praxisfeld auch durch persönliches Training zu stabilisieren. Wir kennen dieses Prinzip aus dem Training von Selbstverteidigung. Menschen, die diese effektiven Techniken des Selbstschutzes im Notfall erfolgreich anwenden wollen, müssen sie beständig üben.
- Kultureller Wandel: Die Implementierung des GRACE-Modells erfordert einen kulturellen Wandel hin zu einer Praxis des lebenslangen Lernens und der Integration von Mitgefühl in den Arbeitsalltag. Solche Veränderungen in etablierten Strukturen und Denkweisen können auf Widerstand stoßen[11].
Es bedarf dringend einer intensiven aufklärenden Arbeit bereits in der Ausbildung von Fachkräften, um auch hier die Voraussetzungen für ein Umdenken zu schaffen.
- Schulung und Training: Um das GRACE-Modell effektiv einzusetzen, benötigen Mitarbeitende im Gesundheitswesen entsprechende Schulungen und kontinuierliches Training. Dies erfordert zusätzliche Ressourcen und Zeit, die in einem oft bereits überlasteten System schwer zu finden sein können[14].
Auch für diese Herausforderung ist ein Umdenken erforderlich, damit präventive Hilfen gesamtwirtschaftlich als wirtschaftlicher Vorteil erfahrbar werden. Darüber hinaus ist eine gesellschaftliche Neubewertung der Care-Arbeit notwendig, die zur volkswirtschaftlichen Aufwertung der Rolle helfender Berufe beiträgt und die Verantwortung für diese wichtige Aufgabe nicht auf die Einzelnen verschiebt.
- Individuelle Anpassung: Das Modell muss möglicherweise an verschiedene Kontexte und Fachbereiche im Gesundheitswesen angepasst werden. Was in einem Bereich gut funktioniert, könnte in einem anderen weniger effektiv sein. Diese Anpassung erfordert sorgfältige Überlegung und möglicherweise mehrere Iterationen.
Um diese Anpassungen vornehmen zu können, müssen Modelle wie GRACE geschult, erforscht und auf ihre Anwendbarkeit in unterschiedlichen Praxisfeldern untersucht werden.
- Messung der Wirksamkeit: Es kann eine Herausforderung sein, die Auswirkungen des GRACE-Modells auf die Patient*innenversorgung und das Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen objektiv zu messen und zu quantifizieren. Dies ist jedoch wichtig, um die Akzeptanz und weitere Unterstützung für das Modell zu sichern.
- Integration in bestehende Systeme: Die Einbindung des GRACE-Modells in bestehende Arbeitsabläufe, Protokolle und elektronische Gesundheitssysteme kann komplex sein und erfordert sorgfältige Planung und Umsetzung.
- Burnout-Prävention: Obwohl das GRACE-Modell entwickelt wurde, um Burnout vorzubeugen, könnte die anfängliche Implementierung paradoxerweise zusätzlichen Stress für Mitarbeitende verursachen, die sich an neue Praktiken gewöhnen müssen[12].
- Kontinuierliche Anwendung: Eine weitere Herausforderung besteht darin, sicherzustellen, dass das GGRACE-Modell nicht nur kurzfristig, sondern langfristig und konsistent angewendet wird, auch wenn der anfängliche Enthusiasmus nachlässt.
Trotz dieser Herausforderungen bietet das GRACE-Modell ein vielversprechendes Werkzeug zur Verbesserung der Patient*innenversorgung und des Wohlbefindens der Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen. Mit sorgfältiger Planung, ausreichenden Ressourcen und kontinuierlicher Unterstützung können diese Herausforderungen bewältigt werden, um die Vorteile des Modells voll auszuschöpfen.
Wer sich für eine Schulung im GRACE-Modell interessiert, kann sich gerne an mich wenden. Bei entsprechendem Interesse plane ich, die oben genannten Referent*innen nach Deutschland einzuladen, um eine solche Schulung vor Ort anzubieten. Alternativ bietet das Upaya Zen Center regelmäßige Online-Schulungen in englischer Sprache für Fachkräfte an.
Das nächste Training startet im September 2025. Hier finden Sie dazu nähere Informationen:
Quellenverweise:
[1] https://societyforhealthpsychology.org/the-health-psychologist/clinical-highlight/the-grace-model-a-practical-framework-for-implementing-positive-psychology-interventions-in-medical-settings/
[2] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16866688/
[3] https://www.commonwealthfund.org/publications/case-study/2021/oct/living-independently-grace
[4] https://www.upaya.org/2012/09/practicing-g-r-a-c-e-how-to-bring-compassion-into-your-interactions-with-others/
[5] https://www.linkedin.com/pulse/grace-model-develop-capacity-effective-compassionate-jimmy-petruzzi
[6] https://www.researchgate.net/publication/272658166_GRACE_for_nurses_Cultivating_compassion_in_nursepatient_interactions
[7] https://www.youtube.com/watch?v=SWLmnHB4rLY
[8] https://www.lionsroar.com/help-when-your-heart-breaks/
[9] https://www.linkedin.com/pulse/grace-model-nursing-education-bridging-knowledge-genuino-dnp-rn-bc-rdeze
[10] https://www.researchgate.net/publication/370322746_The_GRACE_Model_A_Practical_Framework_for_Implementing_Positive_Psychology_Interventions_in_Medical_Settingsthe-grace-model-a-practical-_framework-for-implementing-positive-psychology-interventions-in
[11] https://www.semanticscholar.org/paper/b435d811e1befbf32e428f251a12f0afaf2cc9f1
[12] https://www.upaya.org/2012/09/practicing-g-r-a-c-e-how-to-bring-compassion-into-your-interactions-with-others/
[13] https://www.semanticscholar.org/paper/ef43ac63d78161b484915be75abdda7520c1edd0
[14] https://www.researchgate.net/publication/272658166_GRACE_for_nurses_Cultivating_compassion_in_nursepatient_interactions
[15] https://www.commonwealthfund.org/publications/case-study/2021/oct/living-independently-grace
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