In der vergangenen Ausgabe meines Newsletters beschrieb ich einen Aspekt der Alltagspraxis, der mir bedeutsam erscheint, sobald etwas Ungeplantes geschieht. Hier können Sie diesen Gedanken anhand meiner Bergtour in den Ferien noch einmal kurz rekapitulieren, wenn Sie möchten.
Es ging dabei um die Praxis des Loslassens, der Offenheit für Unvorhergesehenes, das unsere Pläne beeinflusst oder gar durchkreuzt.
Was würde aber – daran anschließend – besser passen, als sich Gedanken darüber zu machen, wie sich Voreingenommenheit auf unsere therapeutische Arbeit auswirkt?
Gibt es überhaupt wirkliche Unvorgenommenheit in der Psychotherapie?
Kennen Sie solche Situationen?
- In der Arbeit mit meiner Patientin hat sich im Laufe der Monate eine gewisse Routine entwickelt. Zunächst betrachte ich es als ein gutes Zeichen Wir kennen uns, wissen voneinander, arbeiten gut zusammen, alles läuft wie am Schnürchen. Doch dann bemerke ich eine gewisse Langeweile. Ich begegne den Schilderungen der Patientin mit den immer gleichen Ideen, fühle mich verunsichert dadurch, dass ich meine, das Gleiche schon einmal gesagt zu haben.
Verstehe ich diese Patientin wirklich?
Oder hat sich nur ein Modus des Arbeitens eingeschlichen, der dazu dient, Konflikte zu vermeiden? - Während einer Stunde mit Herrn H. beobachte ich mich dabei, wie ich immer wieder abschweife und meine Konzentration nachlässt, ja sogar eine gewisse Müdigkeit einsetzt, die ich erst einmal auf meinen schlechten Schlaf heute Nacht schiebe. Doch dann beginne ich darüber nachzudenken, ob es etwas mit der Stunde zu tun haben könnte. Dabei bemerke ich, dass die Schilderungen meines Patienten eigentümlich eintönig daher kommen, mit monotoner Stimme vorgetragen und inhaltlich perseverierend. Während ich zunächst gedacht hatte, dass es sich einfach um ein Muster handelt, dem ich jedoch keine weitere Bedeutung beigemessen hatte, weckt dieses Phänomen nun mein Interesse: ich fühle mich wie „in den Schlaf gesungen.“
Egal mit welchem Verfahren Sie arbeiten, entwickeln Sie im Laufe der Jahre und mit zunehmender Erfahrung ein persönliches „Mindset“ an Konzepten, Theorien und Herangehensweisen. Wir brauchen solche Werkzeugkästen, Toolsets, implizite Theorien und vertraute Modelle, um nicht immer wieder das Rad neu erfinden zu müssen.
Das hat Vorteile für unsere alltägliche Arbeit.
Und wenn wir uns unserer Haltung bewusst werden, können wir feststellen, dass es eine wirkliche Unvoreingenommenheit in der Psychotherapie im Grunde gar nicht gibt. Zu sehr spielen unsere Vorstellungen und Auffassungen, unsere Art, wie wir die Welt und unsere Arbeit betrachten, eine Rolle auch dabei, wie wir unseren Patient*innen begegnen.
Wie wir Patient*innen begegnen, als sähen wir sie das erste Mal
Was mich in dieser Ausgabe meines Newsletters jedoch beschäftigt, ist der Nachteil, den diese Vorbereitung hat, wenn wir unsere*r Patient*in in jeder Stunde mit unserer ganzen Aufmerksamkeit begegnen wollen, und was passiert, wenn wir stattdessen „von ganzem Herzen“ aufmerksam sind.
Dabei bediene ich mich einiger Ideen von Karen Horney, einer deutsch-amerikanischen Psychoanalytikerin, die gemeinsam mit Erich Fromm (deren Lebensgefährtin sie auch war) eine eigenständige Ausbildung in tiefenpsychologischer Psychotherapie ins Leben rief.
Doch nun zu den Vor- und Nachteilen des sich Vorbereitens – bis zur Voreingenommenheit.
Jede Form der Vorbereitung versucht einzugrenzen, was auf uns zukommt. Manchmal ersetzt unsere Vorbereitung sogar das Wissen darüber und suggeriert uns, dass wir uns auskennen, obwohl wir im Grund niemals wissen, wer uns in der kommenden Stunde begegnen wird. Eine solche Vorbereitung dient manchmal nur dem Umgang mit unserer eigenen Unsicherheit. Was ist schließlich schlimmer, als nicht zu wissen, wie wir unserem Patienten oder unserer Klientin helfen können? Die kommen ja auch mit der Erwartung, dass wir wissen, worüber sie sprechen und ihnen dabei helfen können, ihre Probleme zu lösen.
Was aber, wenn wir dadurch immer auch in die Gefahr geraten, Wichtiges zu übersehen? Wie können wir uns dann offen halten für das, was wir in der Psychoanalyse „das Unbewusste“ nennen, oder mit Beziehungsmustern meinen, die wir erkennen und gegebenenfalls korrigieren müssen?
Mitunter bemerke ich, dass ich mit meinen Patient*innen zu gut „funktioniere“ und dann unaufmerksamer werde auf das, was ich noch nicht kenne.
Was ich mit Voreingenommenheit meine, beschreibt so die bereits gefassten Meinungen und Vorstellungen, die ich von meinem Gegenüber habe, sei es als Ergebnis der bisherigen Arbeit, sei es als Ausdruck meiner Methode, die mich im Extremfall an das Sprichwort denken lässt:
Wer nur einen Hammer hat, für den sind alle Probleme der Welt nur Nägel.
Stattdessen schlage ich Ihnen eine Übung vor. Versuchen Sie einmal, einer Patientin oder einem Klienten im Geiste wirklich so zu begegnen, als sähen Sie ihn oder sie das erste Mal:
- Stellen Sie sich vor, Sie wüssten noch nichts von ihrem Gegenüber, sondern würden ganz offen und neugierig alles aufnehmen, als hörten und sähen, spürten und dächten Sie es ganz frisch
- Versuchen Sie, sich selbst dabei ebenfalls im Blick zu behalten, indem Sie gewissermaßen oszillierend zwischen ihrem Gegenüber und ihren eigenen Eindrücken, Wahrnehmungen und Assoziationen hin und her wechseln.
- Nehmen Sie sich nach einer solchen Begegnung ein paar Minuten Zeit und versuchen Sie, die Person, der Sie soeben begegnet sind, mit dem gleichen Menschen zu vergleichen, den Sie vielleicht in der Woche zuvor oder schon einige Male gesehen haben. Haben Sie etwas Ihnen noch Unbekanntes entdeckt? Sind Ihnen neue Ideen gekommen oder Kontraste zu dem, was Sie bisher dachten, entstanden?
Karen Horney, die 1885 in Hamburg geboren wurde und nach ihrer Ausbildung zur Psychoanalytikerin in Berlin im Jahr 1932 in die USA ging, beschreibt in ihren posthum herausgegebenen „Final Lectures“ die Aufmerksamkeit des Analytikers als „von ganzem Herzen“ und bezeichnet damit eine ähnliche Haltung, wie Sie sie in früheren Newsletter-Ausgaben vielleicht schon als meine „Haltung der Präsenz“ kennengelernt haben.
„Wholeheartedness of concentration means that all our faculties come into play: conscious reasoning, intuition, feelings, perception, curiosity, liking, sympathy, wanting to help, or whatever.“
Horney vertritt die Auffassung, dass sich diese Form der Aufmerksamkeit trainieren lässt, und verwendet als Beispiel dafür die Aufmerksamkeitsübungen im Buddhismus, bei denen sich Achtsamkeit und Gewahrsein mit einer Wissensklarheit verbinden lassen, die aus dem genauen Studium dessen entsteht, was „wirklich ist.“ Ich würde es vergleichen mit der Haltung in der Vipassana-Tradition, bei der sich die Einsicht durch das genaue Studium aller „Fakultäten“ unserer Sinne einschließlich der sich uns in den Weg stellenden Hindernisse ergibt.
Horney spricht weiter von einer Schulung des Geistes, wie sie sie auch in ihren Supervisionen mit Ausbildungsteilnehmer*innen erlebt hat, die über ihre Behandlungsarbeit berichten. Es sei nach einiger Zeit zu bemerken, wie die Aufmerksamkeit immer offener und präsenter werde, und die Schilderungen dessen, was vor sich geht, immer differenzierter und am Erleben des Moments orientiert.
Ich erlebe in meiner eigenen Achtsamkeitspraxis auch einen gleichzeitig entspannten und wachsamen Geist, der sich der Unschärfe des Aufnehmens im Sinne des peripheren Sehens bedient. So werden eher die Veränderungen und Brüche wahrnehmbar als jedes kleine Detail, wie wir es sehen, wenn wir genauer fokussieren.
Dieser Offenheit entspricht offenbar auch das, was wir in den Stunden erleben können, die eher nach dem Prinzip der Emergenz verlaufen, mit dem etwas Neues entsteht, wenn vorher nicht Geplantes aufeinander trifft.
So wird nicht jede Stunde ablaufen können, aber eine diesem Prinzip der Emergenz folgende Haltung bzw. Bereitschaft kann uns davor bewahren, dass wir – theoretisch und klinisch gut ausgebildet und trainiert – zu schnell denken, zu wissen um was es geht. Dabei liegt denke ich am besten die Betonung auf „zu schnell.“
„Don’t select too early.“
Karen Horney
Irgendwann werden wir etwas herausgreifen, es kommentieren und darüber mit unseren Patient*innen näher ins Gespräch kommen. Was das ist, bestimmt dann hoffentlich das, „was jetzt dran ist“ im Sinne unserer Patient*innen, nicht unsere vorgefasst Meinung oder unser Lieblingskonzept.
Heute geht es mir darum, Ihre Aufmerksamkeit auf den Kontrast zwischen dieser Haltung der Präsenz und der Voreingenommenheit durch bereits vorgefertigte Konzepte, Vorstellungen und Meinungen zu lenken.
So praktisch das routinierte Vorgehen scheint, mache ich doch die Erfahrung, dass meine Routinen sich im Laufe der letzten Jahre mehr darauf verschoben haben, schneller in diese Haltung der Präsenz zu gelangen, mit der größtmöglichen Aufmerksamkeit aufzunehmen, was meine Patient*innen mitbringen, und zurückhaltend mit meinem Bedürfnis nach Sicherheit und „Wissen“ umzugehen.
Wie geht es Ihnen damit?
Welche Erfahrungen haben Sie mit Voreingenommenheit oder Unvoreingenommenheit gemacht?
Ich bin neugierig auf Ihre eigenen Eindrücke und Erfahrungen.
Und jetzt: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen