Was ist das Ziel einer persönlichen Achtsamkeitspraxis?
Achtsamkeit erscheint den einen als segensreiche Verheißung, den anderen als fragwürdiger Hype.
Die einen betrachten Achtsamkeit als Möglichkeit, in einer rastlosen Zeit eine langsamere Gangart einzulegen und sich bewusst der Selbstfürsorge zuzuwenden, um nicht im Hamsterrad der Alltagsanforderungen erschöpft zusammenzubrechen.
Dabei entsteht bei manchen der Eindruck, als ginge es nur noch darum, sich selbst zu optimieren im Dienste eines reibungslosen Funktionierens im Alltag.
Kritische Stimmen sehen genau darin die Gefahr. Sie verstehen den Hype um die Besinnung als „Besinnlichkeit,“ mahnen vor einem zunehmenden Rückzug von gesellschaftlicher Verantwortung in die Privatheit und Selbstbezogenheit und befürchten eine Instrumentalisierung der Achtsamkeit als neue Spiritualität eines neoliberalen Kapitalismus.
Damit drohen sie jedoch zugleich, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Ist das alles wirklich nur ein Hype? Hat Achtsamkeit ihren ursprünglichen Wert verloren?
In ihrem buddhistischen Ursprung bildet Achtsamkeit nur einen Baustein einer ganzen Sammlung von Anleitungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit sich selbst und anderen.
Diese im ethischen Handeln verwurzelte Achtsamkeit droht, sowohl durch den Hype als auch durch eine missverstandene Kritik an „der Achtsamkeit“ in Misskredit zu geraten.
- Wie lässt sich aber Achtsamkeit zwischen Entspannung und Engagement denken – und vor allem praktizieren?
- Welcher Weg führt uns sicher über den Grat zwischen Privatisierungstrend und Selbstoptimierung?
- Wie sorgen wir dafür, dass Achtsamkeit zu bewusster Lebensführung beiträgt, die aus einer Haltung der Präsenz und im Kontext ethischen Handelns das Wohl aller Menschen anstrebt?
Und was hat es mit „Viharati“ auf sich?
Darum geht es in meiner heutigen Newsletter-Ausgabe.
„Wahrhaft revolutionäre Achtsamkeit ist befreiend, sozial und bürgerschaftlich. Sie beruht auf kritischem Denken und nicht auf urteilsfreiem Rückzug.“
Ron Purser, McMindfulness
Für mich besteht am kritischen Potential buddhistischer Lebenspraxis kein Zweifel. Meine Lehrer*innen waren bzw. sind politisch aktive Buddhist*innen:
- der 2022 verstorbene vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh, Gründer von Plum Village
- der Gründer der internationalen Zen Peacemaker Gemeinschaft und amerikanische Zen-Meister Bernie Glassman oder
- die amerikanische Zen-Meisterin Joan Halifax, Gründerin des Upaya-Zen-Center in New Mexico
stehen für ein sozial engagiertes Verständnis von Achtsamkeit.
So verstanden, bedeutet die Meditationspraxis eine Möglichkeit, unsere Aufmerksamkeit immer wieder neu auf unsere Präsenz in der Welt zu lenken. Mit Hilfe meiner täglichen Meditationen fiel es mir z.B. schon bald deutlich leichter, präsent zu sein im gegenwärtigen Moment meiner psychotherapeutischen Stunden mit Patient:innen.
Viharati – alles ändert sich, wenn ich präsent bin
In den Beiträgen meiner Website spielt der Begriff „Viharati“ seit einiger Zeit eine zentrale Rolle.
Dieser Ausdruck steht für eine Haltung in der Meditation, die besonderen Wert auf das „Nichts tun“ legt.
Doch dazu gleich mehr.
Übersetzt aus der Pali-Sprache, hat der Begriff je nach Kontext verschiedene Bedeutungen. Der Ausdruck bezieht sich auf einen Ort zum Sein (Vihara), was so viel heißt wie „Aufenthaltsort“ oder auch „ein Leben führen“. Aber auch das Zusammensein spielt dabei eine Rolle, oder eben das Verweilen an einem Ort, das „vor Ort sein“.
Alle diese Begriffe spiegeln einen Aspekt der Achtsamkeitspraxis wieder, die ich Ihnen heute vorstellen möchte. Sie lassen das Bild einer Achtsamkeit entstehen, die der ganzheitlich betrachteten, „weisen Achtsamkeit“ der buddhistischen Tradition entspringt.
Ich verbinde mit dem „Verweilen“ oder „vor Ort sein“ das Bild eines Gasthauses, einer Herberge oder Raststätte. „Vihara“ – so nennt man in der Pali-Sprache auch die Klöster z.B. in der thailändischen Waldklöster-Tradition, in denen die Wandermönche des Theravada während der tropischen Regenzeit Unterkunft finden.
Man trifft sich, kommt zur Ruhe, findet Schutz und ein Dach über dem Kopf, begegnet vielleicht auch Weggefährten, mit denen man sich austauschen kann. So bedeutet „Viharati“ als Verb auch, auf dem Weg der eigenen Lebenspraxis innezuhalten, vielleicht seine Richtung zu überdenken, Anregungen aufnehmen oder Korrekturen vornehmen zu können.
Doch nun zu den fünf Aspekten der Achtsamkeitspraxis.
1. Verweilen – meditierend praktizieren
Wer selbst meditiert, weiß, dass es dabei immer wieder Aufs und Abs gibt. Diese stehen oft in Verbindung mit unseren eigenen Erwartungen und Ansprüchen bzw. deren Enttäuschung.
Adriaan van Wagensveld schlägt in seinen Meditationen vor, statt erwartungsvoll und angestrengt zu meditieren, lieber zu „verweilen“ und einfach nur zu sitzen (oder zu stehen, zu gehen oder zu liegen). Er verweist damit auf eine weitere Übersetzungsmöglichkeit des Verbs „Viharati“.
Dieser Ausdruck wird in der Lehrrede des Buddha über die „Grundlagen der Achtsamkeit“, das Satipaṭṭhāna-Sutta, oft wiederholt. Das Verweilen gehört zu den Haltungen, mit denen wir uns und der Welt während der Meditation gleichmütig begegnen, um sie zu erforschen.
Dass wir dazu auch „einfach nur sitzen“ können, findet sich in verschiedenen buddhistischen Traditionen, wie auch im Zen unter dem Begriff des Shikantaza. Ich erwähnte es bereits in meiner letzten Newsletter-Ausgabe Meditation ohne Transzendenz – Lernen durch Erfahrung.
Was daran besonders bedeutsam ist, lässt sich erfahren, wenn wir diese Form der Meditation mit der Vielzahl an einfallsreichen, oft musikalisch begleiteten und doch mitunter auch verwirrenden Anleitungen vergleichen. Wir können sie bei YouTube, in Podcasts oder auch auf manchen Meditations-Apps begegnen.
Verwirrend – das geht so weit, dass manche Meditierende zu Beginn ihrer Achtsamkeitspraxis in der Vipassana-Meditation erstaunt sind, dass es nicht darum geht, „nicht zu denken.“
Sich stattdessen nur auf das auszurichten, was als Anker die Aufmerksamkeit fokussiert, wie zum Beispiel den Atem oder die Körperwahrnehmung, und alles andere „unberührt zu lassen,“ ist die einfachste Form der Meditationsanweisung in der Vipassana-Tradition.
Diese Art der Meditation ist so gar nicht „hype-fähig“. Sie wirkt bescheiden, verfolgt kein anderes Ziel als die Anwesenheit im gegenwärtigen Moment. Wenn wir verweilen, sind wir da, wach und aufmerksam.
2. Bewusst sein – gewahrsam praktizieren
Neben dieser Form der Achtsamkeitsmeditation lässt sich Achtsamkeit auch als ein bewusstes „In-der-Welt-sein“ betrachten, mit dem wir Einsicht gewinnen in das, was „wirklich ist“.
In meiner Ausbildung zum Achtsamkeitsmeditations-Lehrer bei Tara Brach und Jack Kornfield ist die Achtsamkeit gegenüber kulturellen und rassischen Prägungen ein integraler Bestandteil der Lernmodule.
- Wer aufmerksam für die geschichtlichen Hintergründe seiner eigenen Vorbehalte gegenüber dem Fremden wird, betrachtet seine Lebenswirklichkeit bewusster, wird sensibler in Hinblick auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen für mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit.
- Wer sich für die eigene Beteiligung an Ausgrenzung und sozialen Notlagen öffnet, kann sich bewusster für oder gegen bestimmte Konsumformen entscheiden
- Wer seine Aufmerksamkeit für diese Prägungen verbessert, kann in polarisierenden Diskussionen differenzierend Stellung beziehen oder Zivilcourage in der Fußgängerzone zeigen.
Diese Aufmerksamkeit hilft, uns der bewussten und unbewussten Motive auch dann gewahr zu sein, wenn wir Achtsamkeit praktizieren. Wir werden uns der vielfältigen Umstände und Haltungen bewusst, die unsere Sicht auf die Welt prägen.
Damit können wir besser der Verantwortung gerecht werden, die wir durch unser Sein in der Welt denjenigen gegenüber haben, auf deren Kosten wir leben.
So entsteht im Umfeld der Achtsamkeit der Wirkort für die Brahmaviharas. Das ist eine Gruppe von zentralen Haltungen der buddhistischen Geistesschulung, oft poetisch übersetzt mit „die vier himmlischen Verweil-Zustände“:
- Metta – liebende Güte
- Karuna – Mitgefühl
- Mudita – teilnehmende Freude
- Upekkhā – Gleichmut oder auch Gleichheit
3. Präsent sein – zugewandt praktizieren
Die Haltung der Präsenz ist Ihnen aus meinen Berichten zur Achtsamkeitspraxis bereits bestens bekannt. Ich möchte hier den Aspekt der Zugewandtheit betonen, der wiederum eine aktive Seite sowohl der Meditation als auch des achtsamen Handelns darstellt.
Wenn wir etwas oder jemand unsere Aufmerksamkeit zuwenden, dann gehen wir dadurch ein Commitment ein. Wir lenken unsere Sinne aus, wenden uns körperlich in eine Richtung oder wir bewegen uns gar auf jemand oder etwas zu.
Präsenz lässt sich so als Anwesenheit im bewussten Sinne zu verstehen.
Wenn ich mich darauf besinne, wer ich bin und wo ich bin, sammele ich meine Aufmerksamkeit und erinnere mich meiner Intention, mit der ich meine Arbeit verrichte oder mich meinem Gegenüber zuwende.
Ich nehme wahr, ob ich gerade in der Lage bin, mich dem Anderen zu widmen, beginne die Situation in mich aufzunehmen, die meine Aufmerksamkeit benötigt, und abzuwägen, was getan werden muss.
Dazu gehört auch, dass ich mich umschaue, ob es noch andere Akteure in dieser Situation gibt, mit denen ich mich verbünden kann.
4. Verbunden sein – gemeinsam praktizieren
Aus dem vierten „Verweilort“, dem Gleichmut, gewinnen wir die Einsicht, dass alles miteinander verbunden ist. Je nach Kontext erweist sich etwas Gutes mitunter als etwas, das mit negativen Folgen verbunden ist, oder eine schlechte Erfahrung lässt uns Einsichten gewinnen, die uns zu Gute kommen.
Upekkhā lässt sich jedoch auch mit Verbundenheit, mit Inklusivität übersetzen.
„Der nächste Buddha ist eine Gemeinschaft.“
Thich Nhat Hanh
Indem ich mir dieser Verbundenheit bewusst werde, kann ich sowohl meiner Verantwortung gerecht werden, als auch die Unterstützung anderer wahrnehmen, denen ich mich zugehörig fühle.
Ich bin nicht mehr einsam und allein, sondern kann mich als Teil einer Gemeinschaft erleben.
5. Vor Ort sein – engagiert praktizieren
Achtsamkeit (Sati) und Wissensklarheit (Sampajañña) führen gemeinsam zu einer Bereitschaft, gezielt und entschieden zu handeln.
Das kann sowohl konkrete Maßnahmen betreffen, wie den Einsatz für soziale Randgruppen, etwa ein Ehrenamt in der Wohnungslosenhilfe, oder auch darin bestehen, aktive Zeug:innenschaft für die Greueltaten der Menschen im Nationalsozialismus zu übernehmen, wie die Zen-Peacemaker-Gemeinschaft es mit ihren Retreats z.B. in den Vernichtungslagern in Auschwitz tut.
Ich schreibe über ein weiteres Beispiel dieses „Vor-Ort-seins“ in einer früheren Newsletter-Ausgabe, aber auch in einem längeren Beitrag „In besonders belastenden Situationen Mitgefühl entwickeln – das GRACE Modell im Einsatz mit Fachkräften im Gesundheitswesen“
Dieses Modell geht auf die Zen-Meisterin Roshi Joan Halifax, zurück, eine Medizin-Anthropologin, die sowohl in der Hospizarbeit als auch in der Wohnungslosenhilfe tätig war, und aus ihrer Arbeit ein Konzept entwickelt hat, welches das Ausbrennen der Helfenden verhindern soll.
Letztlich heißt vor Ort zu sein, sich zu engagieren, Stellung zu beziehen, Wort und Partei zu ergreifen. Wenn ich mich an die Seite der Menschen stelle, die meine Unterstützung benötigen, praktiziere ich Achtsamkeit in ihrer engagierten Form.
- Mit welcher dieser fünf Aspekte der Achtsamkeitspraxis fühlen Sie sich spontan gerade am meisten verbunden?
- Welcher der Aspekte ist Ihnen (noch) fern oder nur schwer zugänglich?
- Gibt es Aspekte, die Sie vermissen?
Ich freue mich, von Ihnen zu hören.
Und jetzt: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen