Mit Verstehen ist es (noch) nicht getan – wie Verhaltens-Weisheit entsteht

Newsletter #26 vom 30.08.2025

In dieser Newsletter-Ausgabe steht der Transfer in den Alltag im Vordergrund:

  • aus der Psychotherapie – in die Lebensführung
  • aus dem Meditationssaal – in die Alltagspraxis
  • aus der Einsicht – in die Handlung.

Dazu habe ich mir auch noch einmal angeschaut, wie in der Forschung über Präsenz nachgedacht wird. Präsenz ist für mich das ideale Beispiel für eine Haltung, die zugleich als Handlung erkennbar wird, wenn sie „zum Einsatz“ kommt.

Hierbei handelt es um eine Art von Fürsorglichkeit (Gilbert, 2020) im Umgang der Psychotherapeut*innen mit ihren Patient*innen, die als „empfangende Erfahrung“ eines achtsamen Gewahrseins den Austausch beider Seiten prägt und im Idealfall darin eingeht, wie daraus im Laufe der Psychotherapie Mitgefühl und prosoziales Verhalten entsteht – was ich in diesem Beitrag als Ausdruck von „Verhaltens-Weisheit“ bezeichne.

Man muss doch etwas tun?!

Wie oft habe ich das gedacht – manchmal auch ausgerufen:

  • Ich kann nicht untätig bleiben, wenn ich sehe, dass jemand bedroht wird. Es kostet Mut, aber es ist notwendig. Im wahrsten Sinne des Wortes.
  • Ich kann nicht wegsehen, wenn Menschen leiden. Im Laufe der Jahre sind meine Handlungen vielschichtiger geworden, aber sie sind immer der Ausdruck meines Bedürfnisses, zu helfen, mitfühlend zu handeln.
  • Wenn ich erkannt habe, was notwendig ist, bedeutet es oft nur einen weiteren Schritt, um die erste Veränderung zu bewirken. Das ist der Ausdruck von Wissensklarheit – Sampajañña – über die ich in meiner letzten Newsletter-Ausgabe geschrieben habe.

Was tun, wenn Tun alleine nicht hilft?

Mich beschäftigt jedoch seit Längerem das Dilemma, dass aus Tun mitunter Aktionismus wird.
Sobald etwas reaktiv geschieht, ohne dabei nachzudenken, ohne wahrzunehmen, was eigentlich dran ist, was los ist, was benötigt wird, verursachen wir damit oft ebenso unbedachte Schäden.

Unser Handeln bringt uns und andere manchmal sogar in Gefahr.

  • Das bekannteste Beispiel: Erst sich selbst sichern, dann den Unfallopfern helfen. Das lernen wir schon in der Fahrschule oder beim Erste-Hilfe-Kurs.
  • Die Teilnehmerin eines Achtsamkeitskurses berichtet, dass sie nicht mehr meditiert, obwohl sie zuvor noch Feuer und Flamme war. Auf Nachfrage berichtet sie von starkem Unwohlsein und Angst, von selbstkritischen Gedanken, die immer lauter wurden, so dass das Meditieren unerträglich für sie wurde
  • Lebensmittelspenden in die sogenannte „Dritte Welt“ waren noch während meiner Kindheit Gang und Gäbe. Doch sie haben oft bewirkt, dass die regionale Landwirtschaft zugrunde ging, weil die Bauern vor Ort nichts mehr verkaufen konnten. Genauso haben Exporte von Kleiderspenden in Ostafrika die regionale Textilwirtschaft zerstört.

Aus Haltung wird Handlung: Machen macht Mut

Genauso bedeutsam ist für mich jedoch die Erfahrung, dass Machen auch Mut macht. Ich erlebe es in Psychotherapien, wenn Patient*innen aus ihrer Ohnmacht herauskommen, sobald sie sich wieder handlungsfähig fühlen. die viel zitierte Selbstwirksamkeitserfahrung baut darauf auf, dass wir durch wirksames Handeln Wohlbefinden erlangen können.

  • junge Menschen, die sich in der Klimabewegung engagierten, fühlten sich durch gemeinsame Aktionen gestärkt und dachten positiver über die Vorteile von Verbundenheit und gegenseitige Hilfe als diejenigen, die sich lediglich mit der medialen Berichterstattung über Klimakatastrophen informierten, ohne jedoch selbst aktiv zu werden.
  • Opfer von Gewalt entwickeln seltener seelische Erkrankungen, wenn es ihnen möglich ist, sich mit anderen Betroffenen über ihre Erfahrungen auszutauschen und andere über mögliche Gefahren zu informieren, indem sie persönlich oder gesellschaftlich aktiv werden.

Zu diesem Thema erscheint übrigens in Kürze das Buch mit dem gleichnamigen Titel „Machen macht Mut“ der Aktionskünstlerin und Gründerin von „Radikale Töchter“ Cesy Leonard.

Und was mache ich jetzt damit?

Diese Frage höre ich von Patient*innen in der Psychotherapie häufiger. Sobald wir ins Gespräch kommen und dabei an einen unangenehmen Punkt gelangen, entsteht in Gedanken bereits der Impuls, dieses Unangenehme zu beseitigen, etwas dagegen zu tun.

Das ist zunächst einmal sehr nachvollziehbar, aber oft eben nur der Ausdruck von etwas, das den Ursprung für reaktives Handeln bildet. Ich will etwas loswerden, weil es mich stört. Egal, wie. Manchmal im wahrsten Sinne ohne Rücksicht auf Verluste. Aber selten in einer Weise, die eine wirkliche Lösung darstellt, denn dafür wäre das Verständnis für die Beziehungen von Ursache und Wirkung notwendig.

Die Frage, die mich heute beschäftigt, könnte also lauten:
Wie kann ich dafür sorgen, dass ein Verhalten weise ist, also im besten Sinne angemessen, nachhaltig, bedarfsgerecht, wirksam und förderlich?

Wenn uns alles zum Handeln drängt: der Kreis des bedingten Entstehens

Buddha sprach von 12 Gliedern, die die Kette des Entstehens in wechselseitiger Abhängigkeit bilden.
Hier ist der wesentliche Unterschied zu unseren einfacheren Beziehungen von „Ursache-Wirkung“ die Wechselseitigkeit. Ursache kann zugleich Wirkung sein, und umgekehrt.

Dabei steht Unwissenheit im Sinne von „mangelndem Verstehen“ als erstes Glied am Anfang einer Abfolge, die sich dann zu einem Kreis schließen lässt.

In diesem komplexen Kreislauf bildet das Geschehen zwischen unserem Bewusstsein und den Wahrnehmungen eine entscheidende Rolle. Alles, was in uns auftaucht, sei es als emotionaler Impuls, als Sinneseindruck oder als Gedanke, kann wie eine Aufforderung wirken und uns zum Handeln bewegen.

Daran ist im Prinzip erst einmal nichts „falsch“ oder „pathologisch.“ Die buddhistische Psychologie funktioniert da anders. Jedoch zeigt sich dabei, dass wir gut daran tun, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge erkennen, uns ihrer Auswirkungen bewusst werden und lernen, innezuhalten, bevor wir etwas tun.

Genau das versuche ich, in der Psychotherapie mit meinen Patient*innen zu verstehen. In der Psychoanalyse legen wir dazu noch einen besonderen Wert darauf, wie wir die geworden sind, die wir sind.

Ich stelle in meiner Achtsamkeitspraxis immer wieder fest, wie nah verbunden dabei die Elemente des achtsamen Gewahrseins mit der Herangehensweise sind, die ich als Psychoanalytiker zur Grundlage meines Arbeitens gemacht habe. Für meine Patient*innen ist das in sofern jedoch neu, als ihnen niemand beigebracht hat, wie sie ihr Leben mit Hilfe ihres Bewusstseins selbst besser in die Hand nehmen können.

Das geht leichter, wenn auch in den psychotherapeutischen Stunden bereits ganz direkt erfahrbar wird, an welcher Stelle des Kreises des bedingten Entstehens die Möglichkeit besteht, die Kette zu durchbrechen. Sobald wir etwas wahrnehmen, das durch unsere Sinneseindrücke entsteht oder durch unsere Gedanken aufkommt, und wir es als „angenehm,“ „unangenehm“ oder „neutral“ erleben, können wir unsere Neigung beobachten, Unangenehmes zu beseitigen, Angenehmes festzuhalten und Neutrales durch „etwas anderes“ zu ersetzen, weil wir damit nichts anfangen können.

Sobald es uns jedoch gelingt, dazu eine beobachtende Haltung einzunehmen und einen Moment innezuhalten, um diesen Umstand genauer zu untersuchen – was in der Psychotherapie wie auch in der Meditation gelingen kann – können wir unsere Handlungen bewusster wählen.

Aus rein reaktivem Verhalten wird eine bewusste Antwort auf die Erfahrung in der jeweiligen Situation.

Verhaltens-Weisheit – wenn Wert und Handlung übereinstimmen

Im Buddhismus gibt es zwei zentrale Botschaften:

  1. Es ist möglich, Leiden zu überwinden, wenn wir dessen Ursache kennen und weise handeln, um leidvolle Erfahrungen zu verhindern.
  2. Der Weg zur Überwindung von Leiden besteht aus Schritten, die Teil einer regelmäßigen Praxis sind. Sie dienen dem Training unseres Bewusstseins, mit dessen Hilfe wir achtsam handeln lernen.

Die erste Botschaft findet sich in den sogenannten „vier edlen Wahrheiten,“ die zweite ist ausformuliert im „edlen achtfachen Pfad.“

Zusammen bilden diese beiden Texte die Essenz der buddhistischen Psychologie. Und wie es sich auch schon im Kreis des bedingten Entstehens erkennen lässt, sind beide untrennbar verbunden. Ein Text ist elementarer Bestandteil des jeweils anderen.

Der achtfache Pfad besteht aus folgenden Schritten:

  1. Weise Anschauung – hierin finden sich die eben erwähnten vier edlen Wahrheiten, die von der Unabdingbarkeit leidvoller Erfahrungen und deren Überwindung berichten
  2. Weise Absicht – hier geht es direkt um die Kultivierung unserer Haltung. Wir können es als Denken übersetzen, aber in der buddhistischen Psychologie bedeutet Citta zugleich Geist und Herz.
  3. Weises Sprechen
  4. Weises Handeln – dabei lohnt es, sich bewusst zu machen, dass im Buddhismus auch die Gedanken schon als Teil unserer Handlung gelten
  5. Weiser Lebenserwerb – womit wir unser Geld verdienen, nimmt in der buddhistischen Ethik einen großen Raum ein
  6. Weise Anstrengung – worauf wir unsere Bemühungen richten, und in welcher Weise wir sowohl mit unseren Widerständen als auch mit förderlichen Faktoren wie Freude, Tatendrang und Kraft umgehen, ist Gegenstand der weisen Anstrengungen
  7. Weise Achtsamkeit – sie untersucht die vier Bereiche unserer Wahrnehmung, nämlich den Körper, die Gefühle, die Gedanken und einige komplexere Phänomene, mit denen wir im Alltag oft beschäftigt sind, wie unsere Ruhelosigkeit, unsere Zweifel, unsere Trägheit, aber auch förderliche Phänomene wie unsere Energie, unsere Freude oder unseren Mut.
  8. Weise Konzentration – wie wir uns sammeln und unsere Aufmerksamkeit ausrichten

Wir können diesen achtfachen Pfad auch als Anleitung zur Anwendung unserer direkten Erfahrungen in der Achtsamkeitspraxis lesen.

Was uns durch den Fokus auf unsere Wahrnehmung und deren Erforschung zugänglich wurde, können wir mit Hilfe der acht Perspektiven daraufhin überprüfen, was wir tun wollen, und wie wir das möglichst weise anstellen.

Was mich hier vor allem interessiert, ist die enge Verbindung unserer Geistestätigkeit mit unserem äußerlich sichtbaren Verhalten. Eines ist ohne das andere nicht vorstellbar.

Eine mutlose Handlung wird nicht erfolgreich sein, wenn sich ihr Widerstände entgegenstellen. Eine weise Absicht kann daran scheitern, dass wir unsere Aufmerksamkeit nicht darauf ausgerichtet haben, was wir beabsichtigen etc.

Hier geht die buddhistische Psychologie mit ihrer differenzierten Beschreibung von Aspekten unserer Psyche sehr detailliert vor. Das ermöglicht es uns, für viele Aspekte unseres Alltags die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung zu erkennen, unser Verhalten an unseren Absichten und Werten auszurichten und Handlungen als Prozess zu verstehen, den wir bewusst verfolgen.

So können wir ihn immer wieder daraufhin untersuchen, ob er förderlich ist, und gegebenenfalls anpassen.

Ich erlebe diesen achtfachen Pfad als sehr willkommene Erweiterung meiner Meditationspraxis. Seit zwei Jahren lese ich täglich eine Reflexion und eine Praxis-Empfehlung zu einem der „Pfade“ und lasse mich mit eigenen Gedanken, die ich in meinen Morgenseiten festhalte, in den Tag begleiten. Montags zur weisen Anschauung, am Dienstag zur weisen Absicht und so weiter, bis zum Sonntag mit weiser Achtsamkeit und Konzentration.

Ich bin so inspiriert von diesen täglichen Inspirationen des achtfachen Pfades, dass ich überlege, einen eigenen Newsletter dazu zu schreiben, der täglich oder wöchentlich solche Reflexionen und Praxis-Anleitungen enthält.

Hätten Sie daran Interesse?

Dann antworten Sie mir gerne auf diesen Newsletter oder kommentieren Sie kurz auf den Beitrag im Archiv. Ich melde mich dann bei Ihnen, sobald ich dieses Projekt in die Tat umsetze.

Von der Reaktion zur Antwort

In der westlich orientierten, säkularen Achtsamkeitspraxis ist der Aspekt des reflektierten Handelns fast vollständig verloren gegangen. Die in der buddhistischen Philosophie verankerte Achtsamkeit ist jedoch ohne die anschließende Bewertung der eigenen „Forschungsergebnisse“, die wir durch unsere Beobachtungen der direkten Erfahrungen aus dem Bereich der achtsamen Wahrnehmung erhalten haben, nach ethischen Kriterien nicht denkbar.

Was sich hier wie ein extrem zeitaufwendiger Ablauf einzelner Schritte anhört, ist der detaillierten Darstellung geschuldet. Die Alltagstauglichkeit des beschriebenen Vorgehens kann ich selbst aus meiner Erfahrung bestätigen.

Ich höre auch in den Berichten anderer Praktizierender, wie die Übung letztlich den Meister macht, und im Laufe der Zeit Abläufe entstehen lässt, die zwar bewusst, aber zeitlich sehr gerafft und an den normalen Rhythmen des westlichen Alltags orientiert ablaufen.

Eine gewisse Verlangsamung dürfen wir jedoch erwarten, was ja den meisten Menschen, die sich gestresst von der Hochgeschwindigkeit unseres privaten und Arbeits-Alltags fühlen, sehr entgegenkommt.

Alltagstransfer in der Psychotherapie

Ich arbeite gerne mit Patient*innen, die bereits einen ersten Zugang zu kontemplativen Techniken aus ihrer eigenen Erfahrung z.B. aus dem Yoga, von Tai Chi, QiGong oder Meditation mitbringen. Aber auch mit Menschen, die davon überhaupt noch nichts wissen, macht es Spaß, erste Schritte auf dem Weg zur Alltagspraxis zu gehen, wo es sich anbietet.

Das geht für diejenigen, die in der psychodynamischen Psychotherapie vertraut sind mit der gemeinsamen, ruhigen Betrachtung alltäglicher Situationen, oft erstaunlich schnell und leicht. Eine Begleitung für diejenigen, die aufgrund ihrer Denkmuster zu Selbstkritik oder Selbstzweifeln neigen, besteht darin, zunächst ein gewisses Maß an Selbstmitgefühl zu entwickeln und zu praktizieren.

Es ergibt sich im Laufe der beziehungsorientierten Psychotherapie nicht immer so leicht. Viele Menschen profitieren jedoch davon, wenn sie zunächst einmal davon ausgehen, dass sie den gleichen Respekt und die gleiche Achtung erfahren dürfen, wie sie allen Menschen unterschiedslos zusteht.

Hier habe ich die besten Erfahrungen mit wiederholtem Wechsel der Perspektive gemacht, bis es Patient*innen zugänglicher wird, auch sich selbst in ihre Bemühungen einzubeziehen, gute Beziehungen zu haben, einen freundlicheren Umgang zu pflegen und mitfühlend zu handeln.

Letzteres leitet dann direkt über zu dem, was mir in dieser Newsletter-Ausgabe besonders am Herzen liegt, der engen Verbindung von Verstehen und Verhaltens-Weisheit.

Und jetzt: in die Praxis.

Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,

Sönke Behnsen

1 Gedanke zu „Mit Verstehen ist es (noch) nicht getan – wie Verhaltens-Weisheit entsteht“

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