Übergänge bewältigen mit einer Haltung der Präsenz – von der Bedeutung der Zeit und aktiver Zeug*innenschaft

Newsletter #29 vom 10.10.2025

Übergänge stehen für Veränderung, Vergänglichkeit, für Lebensphasen, Abschied, Tod und Neubeginn. Das sind zentrale Themen in unserer Arbeit mit Patient*innen, aber auch in unserem eigenen Leben.

In den buddhistischen Traditionen begegnen uns sehr explizite Rituale, Texte, Meditationen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. So ist der „Bardo“ in der tibetischen Tradition ein Übergangsraum zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten, der im sog. tibetischen Totenbuch beschrieben wird. In moderner Lesart wird damit auch der bedeutsame Übergang beschrieben, den Wilfred R. Bion mit seinem Ausdruck des „Catastrophic Change“ in der psychoanalytischen Arbeit umreißt.

Hierbei kommt der emotionalen Erfahrung eine besondere Rolle zu.

Etwas bricht zusammen und vergeht, damit daraus etwas Neues entsteht.

Von solchen Übergängen und deren Tragweite handelt die heutige Ausgabe meines Newsletters.


Am vergangenen Sonntag saß ich mit meiner Frau am Frühstückstisch.
Ich erzählte, dass ich abends noch einen Entwurf für meinen nächsten Newsletter schreiben wolle.
Sie fragte mich daraufhin, ob sie mir ein Thema vorschlagen solle.
Wir schauten aus dem Fenster.
Draußen war es noch dämmerig, nasskalt und grau.
„Und? Woran denkst Du?“ fragte ich sie.
„Übergänge“ meinte sie.
Meinen fragenden Blick aufnehmend, ergänzte sie: „Schreib doch etwas zu Übergängen. Wie jetzt, mit dem Wechsel der Jahreszeiten.“

Damit war das Thema für diese Ausgabe geboren.

Was den Wert bestimmt

Nach meiner morgendlichen Meditation las ich in der neuesten Ausgabe von „Buddhismus aktuell“ einen Beitrag der westlichen Lama Rigzin Drolma, einer Expertin für tibetischen Buddhismus:

„Selbst unsere destruktivsten Muster bestehen aus ursprünglicher Reinheit. Das sind keine frommen Metaphern, sondern existenzielle Aussagen. Sie lehren uns: Weisheit und Verunreinigung, Pfad und Alltag sind keine Gegensätze. […] Der Pfad manifestiert sich in Offenheit, Empfänglichkeit und beständiger Präsenz.“

Und weiter:

„Wenn wir das übersehen, halten wir manchmal unsere ‚Praxis‘ für wichtiger als das, was wir ‚Alltag‘ oder ‚unseren Kram‘ nennen. Doch gerade dieser Dualismus ist der größte Irrtum: die Vorstellung, dass Weisheit jenseits des Alltags liegt. […] Wahre Erkenntnis zeigt sich nicht in der Flucht, sondern in der kompromisslosen Hinwendung zu allem, was ist.“

Das ist schwere Kost. Wer würde sich nicht abwenden von „destruktiven Mustern“? Nun, auch im Buddhismus geht es um die Überwindung von Leid, und das entsteht nach der Lehre des Buddha aus dem Festhalten und Verlangen nach Dingen, die wir lieben und mögen, und dem Vermeiden von unangenehmen Aspekten unseres Lebens.

Das lässt sich in der Meditation gut beobachten und erforschen. Aber diese „formale Praxis“ ist nichts, worauf wir sitzen bleiben sollten wie auf dem Meditationskissen. Es geht um die Übertragung in unseren Alltag.

Ich erinnerte mich an meine letzten Gedanken zum Transfer der formalen Meditationspraxis in den Alltag. Was nützt die beste Achtsamkeitsmeditation, wenn wir daraus keine Schlüsse für unser Alltagsleben ziehen, oder nicht von einer achtsameren Haltung in unseren Beziehungen profitieren?

Wie lassen sich solche Übergänge von der formalen Praxis in den Alltag gestalten? Was kann dabei helfen, statt sich in die scheinbar konfliktfreie Welt der entspannten Meditation zurückzuziehen, „herauszufinden, was wirklich ist“ wie bei der Zwillingsschwester der Achtsamkeit, der Wissensklarheit?

So ungefähr fühlt sich für mich die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit manchmal an, wenn ich darüber meditiere, um diesem „Thema“ wirklich nahe zu kommen – wie in Lebenssituationen, in denen ich mit Todesfällen, Verlusten oder schweren Abschieden konfrontiert war.

Für mich sind Übergänge davon geprägt, dass ich mich entweder

  • freue, dass etwas zu Ende geht und etwas Anderes anfängt – wie zum Beispiel die Erleichterung es am Ende der kalten Jahreszeit und zu Beginn des Frühlings spürbar macht.
  • traurig bin, dass etwas zu Ende geht – wie beim Verlust einer wichtigen Beziehung, deren Grundpfeiler sich verändert haben, so dass sie sich nur noch als Abklatsch ihrer selbst aufrechterhalten lässt.

Ein bedeutsamer Wechsel kann auf diese Weise als Teil eines Prozesses dienen, über den ich mir der Bedeutungen dessen, was ich erlebe, bewusst werde.

Trauer ist geprägt von einer Phase des Abschieds von geliebten Menschen, Sachen oder Zuständen.
Wenn wir das Neue begrüßen möchten, müssen wir zuvor das Alte losgelassen und den Verlust verarbeiten.

Doch auch mit dem Festhalten ist eine besondere Form der Zuwendung verbunden. Wenn wir lediglich versuchen, diese zu vermeiden, weil wir denken, das sei richtiger, haben wir womöglich eine Gelegenheit versäumt, um einen wesentlichen Teil unseres Erlebens zu erforschen, besser kennenzulernen und dadurch die Möglichkeit zu erhalten, bewusst wahrzunehmen, was in ihm steckt.
Vielleicht meinte Lama Rigzin Drolma auch das mit der ursprünglichen Reinheit destruktiver Muster.

Abwesenheit spüren

Mich verbindet eine zwiespältige Zuneigung zum Herbst.

In dieser Jahreszeit mag ich besonders die Tage, in denen sich der Kontrast zwischen den letzten warmen Sonnenstrahlen und dem sich verfärbenden Herbstlaub gewissermaßen wie „Vergänglichkeit mit Weichzeichner“ anfühlt.

Die Zeit der Ernte ist für mich immer auch eine Zeit, in der ich gleichermaßen den Erfolg der Mühen erkenne, der im Einholen der Feldfrüchte liegt, als auch den Hinweis auf die zyklisch wiederkehrende, bevorstehende kalte Jahreszeit sehe, in der wir uns von diesen Erntefrüchten ernähren müssen, weil es „nichts Frisches gibt.“

Dieser Zustand des Zehrens von Eingemachtem, Eingekellertem, das mir aus meiner Kindheit noch als Begleiter im Herbst oder Winter vertraut ist, gerät angesichts der ständigen Verfügbarkeit in unseren Märkten schnell in Vergessenheit. Es bedarf jedoch nur kleinster Veränderungen, und schon sind die Nachrichten voller Meldungen, die eine drohende Knappheit thematisieren oder einen Rückgang der Erntemengen prophezeien.

So kann die Abwesenheit von etwas uns des Wertes dessen schmerzlich bewusst werden lassen, was uns fehlt. Die damit einhergehende Angst kann uns lähmen, nach Sicherheit suchen oder auf Abhilfe drängen lassen, aber sie kann uns auch darauf aufmerksam machen, was uns lieb und wichtig ist.

Übergänge, Passagen und Veränderungen sind einerseits Zeiträume oder Zustände, die sich dazu eignen, um innezuhalten und sich bewusst zu werden, andererseits aber oft auch von unseren Bemühungen geprägt, unangenehme Veränderungen zu vermeiden.

Damit verweisen sie auch auf den Dualismus in unserem Denken und Fühlen, der für viele leidvolle Erfahrungen verantwortlich ist.

Zustandsänderungen machen uns auf etwas aufmerksam, das wir in der buddhistischen Achtsamkeitspraxis „vedanas“ nennen: die drei Bewertungen „angenehm“, „unangenehm“ und „neutral“. Die Übung mit diesen Zuständen gehört zu den Basics der Achtsamkeits- oder Einsichtsmeditation im Vipassana, einer Tradition im Buddhismus, die das Erforschen dessen, was „wirklich“ ist, in ihren Mittelpunkt stellt.

Die Präsenz des Todes mitten im Leben

Noch einmal zum erwähnten Sonntag und meinen Assoziationen zum heutigen Thema.

Bei einem Waldspaziergang nach dem Frühstück in einer kurzen Regenpause stapften wir zu zweit durchs Burgholz, ein Waldstück auf den Südhöhen Wuppertals, und trafen dort auf eine Vielzahl üppiger Waldpilz-Kolonien auf umgestürzten Bäumen und Stümpfen, die durch die vorangegangenen Regentage sprießen konnten. Überall roch es feucht und moderig, als sinnlicher Eindruck der Vergänglichkeit der „eben noch“ in den Himmel ragenden, riesige Blätterdächer tragenden Bäume, die dort überall kreuz und quer das sogenannte Totholz bilden.

Dieser Sinneseindruck ließ mich an die Präsenz des „Todes mitten im Leben“ denken.

Ich erinnerte mich dabei an ein Gespräch mit einer Patientin in der vergangenen Woche, das sich um den bevorstehenden Abschied aus unserer über vier Jahre dauernden Psychotherapie drehte. In dieser Zeit hatte sie sich zum ersten Mal eingehend mit schweren Gewalterfahrungen ihrer Kindheit auseinandergesetzt. In diesem Prozess hatte die Entwicklung ihrer Kreativität eine zentrale Rolle gespielt, mit der es ihr gelungen war, Erinnerungen aufzuspüren, die ihr zuvor nicht zugänglich gewesen waren.

Wir sprachen in dieser Abschiedsstunde auch von der Bedeutung der Zeit für den Veränderungsprozess und die Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen. Sie erinnerte sich daran, wie wichtig ihr meine aktiven Zeugenschaft während unserer Gespräche gewesen sei, um das Geschehene als Teil ihrer Vergangenheit, ihrer erlebten Geschichte anerkennen und damit auch besser loslassen zu können.
Während sie sich zuvor oft in einem Selbstgefühl verfangen hatte, als Opfer durchs Leben zu gehen, beschrieb sie jetzt, wie es ihr zunehmend gelinge, sich als handelndes Subjekt zu erleben.

Diese Veränderung ihrer Selbstwahrnehmung war das Ergebnis eines Heilungsprozesses, der mir wiederum einen Aspekt des heutigen Themas, der „Übergänge“ bewusst macht.

Heilung bedeutet nicht, etwas ungeschehen zu machen. Im Gegenteil. Dadurch, dass wir etwas anerkennen, das uns widerfahren ist, und es als Teil unserer Geschichte betrachten, können wir Wege finden, wie wir diese Erfahrungen der Vergangenheit überantworten können, damit sie nicht mehr über unsere Zukunft bestimmen.

Nur was erinnert wird, kann auch vergessen werden

Dieser Prozess ist ein Akt der Selbstbemächtigung. Er kann stattfinden, wenn wir uns in der Präsenz des gegenwärtigen Moments der Wahrnehmung selbst bewusst werden, durch die sich das Erlebte in uns äußert.

Wir beginnen, das zu „psychisieren“, was uns widerfährt, indem wir uns mit allem, was es in uns auslöst, auseinandersetzen, es durchleben und dieses „Erleben“ im wahrsten Sinne des Wortes spürend und handelnd als kreativen Akt wahrnehmen.

Ich war sehr berührt von der Abschiedsstunde mit meiner Patientin, die ich in diesem Prozess begleiten durfte. Er hat nicht nur meine Patientin verändert, sondern auch mich. In dieser Zeit habe ich immer wieder mit ihr Momente der Ohnmacht durchlitten, teilgehabt an dem zuvor unaussprechlichen Leid ihrer Kindheit.

Im gespürten Entsetzen, das mir manchmal ins Gesicht geschrieben sein musste und in der Brüchigkeit meiner Stimme hörbar wurde, manifestierte sich etwas von dem, was als Ausdruck aktiver Zeugenschaft Teil einer vergegenwärtigenden, bewussten und endlich auch benennbaren Erfahrung ist.

So konnte die Patientin schrittweise aus schweren, dissoziativen Zuständen in bewusstes Erleben des Erlittenen wechseln, das ihr die Bewältigung ihrer zuvor nur verkörperten, aber jetzt auch psychisch repräsentierten Traumatisierung ermöglichte.

Damit konnte meine Patientin aus ihrer Perspektive der Erwachsenen die eigenen kindlichen Erlebnisse im Nachhinein im Spiegel des Mitfühlens, der ihr als Kind mangels verlässlicher Erwachsener nicht zur Verfügung gestanden hatte, diesmal erfahren und in einer Weise bewältigen, die den Übergang zwischen dem traumatischen „Hier und Jetzt“ in das lebensgeschichtlich verortete „Damals und Dort“ markieren half.

Aktive Zeug*innenschaft und Verbundenheit

Ich habe während dieser Psychotherapie oft darüber nachgedacht, wie wichtig dieser Aspekt der Zeugenschaft gerade in seiner aktiven Form ist. Dazu fand ich vor einiger Zeit ein Essay „Witnessing – aktive Zeugenschaft in der analytischen Praxis“ der Psychoanalytikerin Jeanne Wolff Bernstein.

Sie schreibt:

„Die Entstehung der Erzählung, die angehört wird – und die Gehör findet -, ist deshalb der Prozess und der Ort, an dem Kenntnis eines Ereignisses, ein >Wissen< um ein Ereignis geboren wird. Der Zuhörer ist deshalb an der Entstehung von Wissen de novo beteiligt.“

Auch durch diesen Moment der gemeinsamen Erinnerung in unserer Abschiedsstunde an den „Prozess des Erinnerns“ während der jetzt abgeschlossenen Psychotherapie erlebte ich, wie zentral die Bedeutung der Präsenz für den Übergang vom Ein-Personen-Modell zum Zwei-Personen-Modell in der Psychoanalyse ist.

Dazu noch einmal Bernstein:

„Der Umbruch und die Bewegung von einem „one-person-model“ zu einem „two-person-model“, von einer Position, in der der Analytiker den Patienten beobachtet und dessen Phantasien, Gedanken und Handlungen interpretiert, zu einer Position, in der sich der Analytiker selbst als nicht herauszulösender Teilnehmer des analytischen Geschehens erfährt – er nimmt an dem Geschehen teil und beeinflusst es -, ebnete einem Modell der analytischen Arbeit den Weg, in dem der Analytiker dem traumatisierten Patienten zur Seite anstatt gegenüber steht.“

Bedeutsamen Übergängen begegnen mit einer Haltung der Präsenz

Mir ist es hier besonders wichtig, diese drei Beispiele aus der Perspektive der Resonanz zu betrachten, die erst durch die Präsenz möglich ist, mit der ich an der Erfahrung teilhabe:

  • In der Wahrnehmung von Abwesenheit und Abschied
  • In der Auseinandersetzung mit der Geschichte von Patient*innen, deren Entwicklung wir begleiten, und an deren Auseinandersetzung mit traumatischen Erfahrungen wir durch unsere Präsenz und Beteiligung mitwirken
  • In der Bewältigung von Vergänglichkeit und „Tod mitten im Leben“ und der oft so hilfreichen Begegnung mit diesen Erfahrungen in der sinnlichen Wahrnehmung von Vergänglichkeit in der Natur.

Die Intensität der Resonanz, die diese Erfahrungen in mir auslösen, ist abhängig von der Präsenz, mit der ich ihnen begegne.
Wie sich diese Resonanz in mir auswirkt, wird durch meine Fähigkeit bestimmt, diese bewusst wahrnehmen und sich ihr gewachsen zu fühlen.

Welche Erfahrungen haben Sie mit solchen Übergängen, eigenen Erfahrungen von Vergänglichkeit und innerer Beteiligung an Transformationsprozessen Ihrer Patient*innen gemacht?

Ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie etwas davon mit mir teilen würden.

Und jetzt: in die Praxis.

Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen

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