Eine Entdeckungsreise mit Freud und Buddha
Newsletter #30 vom 25.10.2025
Die heutige Ausgabe meines Newsletters wird einer Serie von Beiträgen angehören, mit denen ich psychoanalytische Konzepte und Schriften neu „lese“ und im Licht der buddhistischen Psychologie betrachte.
Den ersten Teil dieser Serie können Sie in „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ nachlesen.
Wenn Sie diese Perspektive neugierig macht, dann freuen Sie sich auf meine Betrachtung eines der ersten Konzepte des Begründers der Psychoanalyse, aus den Anfängen seiner damals bahnbrechenden Triebtheorie:
das Lustprinzip.
Was motiviert uns zu unseren Handlungen? Über Lust und Unlust aus psychoanalytischer Sicht
Kennen Sie das Lustprinzip? Dieser Begriff stammt ja ursprünglich aus der klassischen psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds, ist jedoch längst in die Umgangssprache eingegangen.
Aber hätten Sie gewusst, dass die dem zugrundeliegende Erfahrung auch eine zentrale Bedeutung in der Jahrtausende alten buddhistischen Lehre hat?
Können Sie sich vorstellen, dass die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung wesentliche Annahmen dieser Theorie bestätigt?
In meinem heutigen Newsletter gebe ich Ihnen – wie gewohnt vor dem Hintergrund meiner eigenen Achtsamkeitspraxis – einige Einblicke, wie kostbar die genaue Erforschung unseres Bewusstseins mit Hilfe der Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsschulung, aber auch der Erforschung des Unbewussten, für unser Wohlbefinden sein kann.
Daraus ergeben sich dann auch weiterführende Überlegungen, die Ihnen helfen sollen, die Bedeutung der sogenannten Einsichts-Meditation (oder Vipassana-Meditation) für Ihre Praxis besser einzuschätzen, wenn Sie beratend, lehrend oder psychotherapeutisch tätig sind.
Und letztlich können Sie daraus vielleicht sogar die psychoanalytische Triebtheorie noch einmal „mit neuen Augen“ lesen.
Was habe ich davon?
- Sie erkennen, dass es nicht immer die Gefühle oder Vorstellungen sind, die unser Handeln oder unser Wohlbefinden bestimmen, sondern dass es noch etwas gibt, was in zeitlicher Abfolge der Ereignisse „davor liegt.“
- Sie entdecken, dass es eine Möglichkeit gibt, sich dessen bewusst zu werden und Entscheidungen zu treffen, auch wenn das gewisse Grenzen aufweist.
- Sie begreifen, dass diese Zusammenhänge etwas mit Ihrer Geschichte zu tun haben, auch wenn das noch lange nicht bedeuten muss, dass Sie sich durch Ihre Vergangenheit bestimmen lassen.
Das psychoanalytische Lustprinzip und seine Bedeutung für unser heutiges Verständnis
In der Psychoanalyse stehen Lust und Unlust in einem bedeutsamen Spannungsverhältnis. Sigmund Freud schrieb in seinen grundlegenden Schriften darüber, welche Rolle diese Empfindungen für die seelische Entwicklung haben.
Wie aber müssen wir uns das vorstellen?
Das Ich ist vor allem ein Körperliches.
Sigmund Freud in: Das Ich und das Es. (1923)
Gehen wir einmal davon aus, dass es bereits in der Säuglingszeit – also ganz zu Beginn unserer ontogenetischen Entwicklung – körperliche Empfindungen gibt, die für unsere Fragestellung bedeutsam sind, sich also an den Wahrnehmungsqualitäten von Lust oder Unlust bemessen lassen. Wir können uns alsdann vorstellen, dass es besondere Anreize für unser Interesse und unsere Zuwendung ergibt, sobald uns als Säugling so etwas Angenehmes oder Unangenehmes begegnet.
In der Zeit der ersten Anfänge der universitären Psychologie erforschte Freud diesen Aspekt der frühen Empfindungen als Teil seiner damals revolutionären Triebtheorie. Sie spielt nach wie vor eine Rolle in der Psychoanalyse, wenngleich sie längst nicht mehr die einzige Theorie ist, nach der psychoanalytisch gedacht und behandelt wird.
Das Prinzip ist einfach: Wir wenden uns Lustvollem zu, entwickeln Verhaltensweisen, um es festzuhalten, und bewerten im Laufe der Zeit das, was uns Lust verspricht, als begehrenswert, befriedigend und „gut“. So entsteht das, was wir „das Begehren“ nennen.
Der Begriff des Unlustprinzips befasst sich – dem ähnlich – vor allem mit dem Vermeiden, um zu einem Zustand zu gelangen, der lediglich „Die Abwesenheit von Unlust“ anstrebt, während das Lustprinzip auf die unmittelbare Befriedigung des Bedürfnisses ausgerichtet ist.
Wenn wir anfänglich ein Bedürfnis verspüren, dann drängt es nach sofortiger Befriedigung, was sozusagen reflexhaft geschieht, und erst im weiteren Verlauf der Entwicklung durch die Ausbildung einer Frustrationstoleranz (oder triebtheoretisch gesprochen durch Triebaufschub) zeitlich verlagert werden kann.
Wir lernen, unser Begehren eine Zeit lang unbefriedigt wartend auszuhalten – oder sogar Formen des Erlebens zu entwickeln, die uns auf diese Befriedigung verzichten lassen: wir sublimieren.
So die Theorie. Daraus entsteht nach Freud jegliche Form der Kulturbildung.
Das Ich und die Realität
Mit der Ausbildung des Ichs geht diese Triebbefriedigung in ein Spannungsverhältnis mit Aspekten der Realität über, die der Befriedigung entgegenstehen. Diese Spannung ist es, die zur Subjekthaftigkeit unseres Erlebens führt. Wir erleben uns als Akteur*in, wir >>wollen<< und >>beabsichtigen<< und können mit fortschreitender Reifung unserer Persönlichkeit durch die spannungsvolle Besetzung mit „Bedeutung“ über lange Zeit die zur Entspannung führende Befriedigung aufschieben, weil wir in dem Lustgewinn, den das innere Erleben in der Vorstellungswelt ermöglicht, eine ausreichende Befriedigung finden. Dazu schreibe ich im Abschnitt zur neurowissenschaftlichen Forschung später noch mehr.
Sogar das Aufschieben an sich kann also zu einer gewissen Zufriedenheit beitragen.
Auf der Polarität dieser grundlegenden Gefühlsfärbungen „angenehm – unangenehm“ oder „Lust – Unlust“ baut ein ziemlich komplexes Gefüge von vielschichtigeren Emotionen, Vorstellungen und Empfindungen auf.
Die Vedanas – das buddhistische Pendant zum Lustprinzip
In der buddhistischen Psychologie kennen wir ein dem Lustprinzip ähnliches Konzept, das der „Vedanas.“
Wer schon mal Achtsamkeit praktiziert hat, der weiß, dass die Gefühle zu den vier Grundlagen der Achtsamkeit gehören. „Gefühle“ ist die oft verwendete Übersetzung für vedanas.
Hierbei geht es jedoch nicht um unseren umgangssprachlichen Begriff der Gefühle oder Emotionen alleine. Vielmehr sind die eben genannten Gefühlsfärbungen „angenehm – unangenehm“ ergänzt um die Qualität „neutral“ gemeint. Es geht also eher um besondere Eigenschaften, die z.B. auch körperlichen Empfindungen oder Wahrnehmungen anhaften können.
Die buddhistische Psychologie geht ähnlich wie die Psychoanalyse davon aus, dass diese Qualitäten dafür verantwortlich sind, ob wir uns etwas zuwenden oder von etwas abwenden, ob wir uns für etwas interessieren, etwas haben oder nicht haben wollen, und was sich daraus anschließend für Gefühle und Gedanken entwickeln.
Wer in der Vipassana- oder Einsichts-Meditation „über die Vedanas meditiert“, erforscht die Wahrnehmung dieser Qualitäten und damit die Grundlagen unserer Bedürfnisse bzw. Abneigungen, ohne ihrer Befriedigung oder „Erledigung“ zu folgen.
Mit Hilfe dieser Meditation lassen sich die Aspekte dieses basalen Motivationssystems aufgrund der Erfahrungen während der Meditation selbst kennenlernen, es geht also nicht um ein abstraktes, theoretisches oder distanziertes Studieren.
Wozu kann das hilfreich sein?
Wenn wir die Lust- und Unlust-Aspekte unseres Mögens und Wollens und den sie begleitenden Emotionen/Gefühlen unterscheiden können, hilft uns das, diese Sequenz im eigenen Erleben besser zu verorten.
Wir werden uns bewusst, dass Lust bzw. Unlust, Angenehm bzw. Unangenehm unwillkürliche Teile des Ablaufs vom Reiz zur Reaktion sind, also nicht das Gleiche sind wie das Begehren (das darauf folgt) oder die Abneigung.
Was sagen die Neurowissenschaften zu Lust und Begehren?
Was daran so spannend ist, erforscht nun die Neurowissenschaft mit ihren Untersuchungen zu unseren motivationalen Systemen genauer. Sie stellte zum Beispiel fest, dass in unserem Gehirn bestimmte Bereiche durch unsere Absichten oder auch Abneigungen aktiviert werden, bevor wir uns dessen überhaupt bewusst sind.
Dabei werden Sinneseindrücke zu „Aufforderungen“ und können unsere Reaktion vorbahnen. Unser Gehirn weiß bereits einige Zeit vorher, was wir tun werden, bevor wir uns dazu entschließen.
Wozu nützt uns diese Erkenntnis?
In diesem Stadium der Wahrnehmung liegt unsere Chance, denn mit Hilfe des Bewusstseinstrainings lernen wir, den Impuls zum Handeln früher zu erkennen und ihn aufzuschieben, um damit die Reaktion zu verhindern, wenn das in unserem Sinne ist. Wir verbessern dadurch unsere sogenannte Impulskontrolle.
Wie tief verankert dieses Aktivierungssystem jedoch ist, merken wir unter anderem daran, dass es auch ohne Beteiligung der Großhirnrinde stattfinden kann, also unter Aussparen des jüngsten Teils unseres Gehirns, das u.a. für unser selbstreflexives Denken zuständig ist.
Es kann sogar sein, dass dieser Prozess hauptsächlich in der Körperperipherie stattfindet, also zum Beispiel im Herz-Kreislauf-System (durch Aktivierung unseres Kreislaufs) oder im Darm, allgemeiner gesagt im vegetativen Nervensystem, gebildet aus den beiden Gegenspielern, Sympathikus und Parasympathikus. Wir aktivieren oder entspannen unsere Körpersysteme unwillkürlich, was für unser Verhalten und unser Selbsterleben von ganz maßgeblicher Bedeutung ist.
Wir sind also auch als Erwachsene viel mehr „Körper“, als uns oft bewusst ist, und handeln so sprichwörtlich „aus dem Bauch heraus“.
Das hat Sven Steffes-Holländer, der ärztliche Direktor der Heiligenfeld-Klinikgruppe, kürzlich bei LinkedIn als „affektive Resonanz“ plastisch beschrieben. Dieses Resonanz-Prinzip wird wirksam, wenn wir Menschen begegnen und mit ihnen „auf einer Wellenlänge“ funken, oder aber auch Aversionen ihnen gegenüber verspüren.
Wir steuern unbewusst auf Menschen zu oder wenden uns von ihnen ab, je nachdem, ob sie uns angenehm oder unangenehm erscheinen.
Oder anders formuliert und auf die soziale Interaktion aus neuropsychoanalytischer Sicht bezogen:
„Durch einen natürlichen Selektionsprozess verknüpfen sich lustvolle Erfahrungen allmählich mit den entsprechenden Objekten und Handlungen, die am ehesten zur Befriedigung libidinöser Triebe […] beitragen.“ (Solms 2007)
Dabei ist eine weitere Erkenntnis sehr bedeutsam:
Lustvolle Aspekte des Erleben hören relativ schnell auf, aber die Antizipation des Genusses tritt bald an ihre Stelle. Das ist eine Erkenntnis, die uns die Suchtforschung geschenkt hat, und die Konsumindustrie ausnutzt.
Antizipation des Genusses bildet das Begehren. Genuss als Lustbefriedigung und Begehren sind also nicht gleichzusetzen.
Begehren lässt sich wesentlich mehr steigern als die tatsächliche Genussfähigkeit. Etwas, von dem wir abhängig sind, zeichnet sich dadurch aus, dass wir längst nicht mehr genießen können, was unser Begehren jedoch enorm stimuliert.
Daran sind Botenstoffe beteiligt, deren Ausschüttung in verschiedenen Hirnarealen die neurobiologische Grundlage unserer Empfindungen bildet. Dren Rolle ist dabei durchaus differenziert.
Dopamin scheint mehr auf das Wollen anzuspringen, Endorphin und Serotonin eher auf das Mögen bzw. den Genuss.
D.h. neurobiologisch betrachtet, dass Glück und Zufriedenheit nicht unbedingt mit der Erfüllung der Lust- und Unlust-gesteuerten Anziehungs- bzw. Aversionsbewegungen entsteht.
Die affektiven Neurowissenschaften bieten da wichtige neue Erkenntnisse, die die buddhistische Tradition hinsichtlich der Aufmerksamkeit und die Psychoanalyse hinsichtlich der Ausbildung von Objektrepräsentanzen, also den inneren Abbildern unserer prägenden Beziehungserfahrungen, bestätigen.
Aufmerksamkeit und das Lustprinzip
Unsere Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource. Wie irritierbar unsere Aufmerksamkeit ist, bemerken wir immer dann, wenn wir „nicht ganz bei der Sache“ sind, wenn wir unter Beeinträchtigungen der Reizfilterung leiden, wie das bei manchen neuro-psychologischen Erkrankungen der Fall ist, oder wenn wir müde oder „chemisch“ abgelenkt sind, z.B. durch Suchtmittel.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit bewusst lenken wollen, dann geschieht das immer als Ergebnis absichtsvoller Entscheidungen, die das Ergebnis von Lernen und Training sind.
Wenn wir wissen, dass da eine ganze Kette von Wahrnehmungen, Gefühlsfärbungen, Gefühlen, Gedanken und Handlungen aktiv ist, dann sind wir bereits einen Schritt weiter.
Denn nun können wir deren Ablauf erforschen, uns die Kenntnis dieses Prozesses zunutze machen und damit einüben, wie wir
- Aufmerksamkeit lenken
- Abhängigkeiten überwinden
- Entscheidungsprozesse steuern
und so ein bewussteres Leben führen.
Vorausgesetzt, unsere Bestrebungen sind nicht auf der seelischen Ebene so sehr von konflikthaften Aspekten des Erlebens bestimmt, dass wir wieder und wieder daran scheitern oder uns unbewusst immer in derselben Weise verhalten, weil sich unser Handeln als Folge von Beziehungs- oder Denkmustern erweist, die für uns nachteilig sind.
Wie buddhistische Psychologie und Psychoanalyse zusammenwirken können
Beide Disziplinen verbindet etwas sehr Wichtiges. Sowohl die buddhistische Psychologie als auch die Psychoanalyse legen großen Wert auf das „Lernen aus Erfahrung“ und auf das genaue Erforschen von Prozessen, die unserem Fühlen, Denken und Handeln zugrundeliegen.
In meiner Achtsamkeitspraxis erlebe ich immer wieder, wie wertvoll die eigene Erfahrung durch die gründliche Erforschung meiner Wahrnehmung in der Meditation ist. Das bildet eine gute Grundlage für die Achtsamkeit im Praxisalltag, wenn ich mit meinen Patient:innen zusammensitze.
Dabei kommt dem Training der Aufmerksamkeit ein besonders hoher Stellenwert zu, aber auch der Offenheit für das, was ich erlebe. Die dazu notwendige Präsenz im gegenwärtigen Moment entwickelt sich im Laufe der Zeit aus der Praxis.
Das Training des Bewusstseins in der buddhistischen Praxis profitiert von der Erfahrung im psychoanalytischen Erforschen des Unbewussten und umgekehrt.
Die buddhistische Psychologie sagt: Lasst uns
- feiner wahrnehmen, was uns bewegt
- unsere Anfälligkeit für Bedürfnisse erforschen
- das Ausmaß unserer Affizierbarkeit ergründen.
Um ein zufriedenes Leben zu führen, ist die Willenskraft alleine wenig Erfolg versprechend. Wenn wir herausfinden wollen, was wir suchen, wenn wir nach Gestilltheit streben, dann werden wir jenseits der Lust-Unlust-Erfahrungen fündig. Zufriedenheit entsteht dann bereits durch homöopathische Dosen.
Bevor wir also einen Spannungszustand inszenieren müssen, haben wir die Möglichkeit, andere Wege einzuschlagen.
Dazu braucht es einen anderen Aufmerksamkeitsfokus und die Bereitschaft, nicht jedem Impuls nachzulaufen.
So ist es möglich, zu reifen.
Das ist ein gemeinsames Ziel von buddhistischer Psychologie und Psychoanalyse.
save the date: 31.10.2025
Die Berliner Gesundheits-Volkswirtin Stefanie Hock spricht mit mir in der nächsten Folge ihres Podcasts „gesundSEIN“ darüber, wie ich als Psychoanalytiker zur Achtsamkeitspraxis kam.
Sie interviewt mich dabei unter anderem zur Haltung der Präsenz, der Bedeutung des Zuhörens in der Psychotherapie, und wie Achtsamkeit dabei helfen kann, gesund zu bleiben oder zu werden.
Die aktuelle Folge erscheint am kommenden Freitag, den 31.10. Hier finden Sie den Podcast: https://www.gesundsein-podcast.com/
Und jetzt: in die Praxis.
Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen