Meditation ohne Transzendenz – Was uns Vipassana als „Lernen durch Erfahrung“ im psychotherapeutischen Alltag bringt

Newsletter #31 vom 08.11.2025

Lernen durch Erfahrung in Meditation und Psychoanalyse

In der Vipassana-Meditation meiner täglichen Achtsamkeitspraxis finde ich eine ähnliche Alltäglichkeit wie in der psychoanalytischen Arbeit von Stunde zu Stunde.

Vipassana heißt übersetzt „Einsicht“. Da wie dort geht es um aus der konkreten Erfahrung erlangte Einsicht, nicht um kognitives Abwägen, logisches Schließen oder lediglich rationales Verstehen.

In der Psychoanalyse erforschen wir die bewussten und unbewussten Bestrebungen von Geist und Körper, indem wir über das, was uns im Hier und Jetzt in den Sinn kommt oder spürbar wird, sprechen. Hierbei heißt „sich erinnern“ im erweiterten Sinn, sich bewusst zu werden, was „gerade jetzt“ bedeutsam ist und im „Damals und Dort“ bedeutsam war.

Es geht hierbei sowohl um Vorstellungen als auch um Sinneseindrücke, Verhaltensweisen und Beziehungsmuster, letztlich alles, worin sich Seelisches und Körperliches manifestiert.

Ausdruck der psychoanalytischen wie der buddhistischen Haltung ist es dabei, alles was auftaucht, wahrzunehmen.

„Achtsamkeit ist eine Beziehungsqualität. Es geht nicht eigentlich darum, was geschieht, sondern um unser Verhältnis dazu.“
Sharon Salzberg („A Guided Practice for Cultivating Attention“, Übers. d. A.)

In der Meditation bzw. der Achtsamkeitspraxis ersetzen wir das Sprechen durch das einfache Gewahrsein. Wir nehmen wahr, lassen alles zu, was da ist, öffnen unsere Aufmerksamkeit für das Geschehen in uns und um uns herum, und für die Beziehungen des in und um uns seins untereinander.

Beiden – der Einsichts-Meditation wie der Psychoanalyse – ist es gemeinsam, das Geschehen als Ausdruck eines In-Beziehung-Seins zu sehen. Die Verbundenheit zwischen Innen und Außen, von Mensch zu Mensch, von Mensch zu umgebender Wirklichkeit steht dabei im Zentrum des Erlebens.

Das geht so weit, dass in der Lehrrede zu den Vier Grundlagen der Achtsamkeit, dem Satipatthana Sutta, die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung nicht nur des eigenen Körpers, sondern auch des Körpers des Anderen als Anker dienen kann.

Rückblickend ist das eine meiner lehrreichsten Erfahrungen aus meinem ersten Retreat, als ich (noch gänzlich unerfahren) meinte, das laute Atmen meines Sitznachbarn in der Meditationshalle nicht aushalten zu können.

Erst als ich annehmen konnte, dass das wohl jetzt „meine Retreat-Aufgabe“ sei, veränderte sich diese Einschätzung, und aus der verlorenen Retreat-Erfahrung wurde ein Gewinn, von dem ich noch heute profitiere.

Und wenn ich heute Wilfred R. Bion’s Buch „Lernen durch Erfahrung“ neu lese, begreife ich viel besser als noch während meiner Ausbildung, worum es ihm geht. Die emotionale Erfahrung, von der er spricht, und die Transformation, die wir in der Psychoanalyse anstreben, setzt die Offenheit voraus, die Bion mit „Nicht-Wissen“ beschreibt, begleitet von einer Haltung der Präsenz, die geprägt ist von Ambiguitätstoleranz, also der Bereitschaft, „inmitten von Unsicherheit auszuharren.“

Meditiert der/die Psychotherapeut*in, verbessert sich die Psychotherapie

In einer Münchener Studie (Grepmair et al. 2007) zeigte sich, dass die Psychotherapien, deren Therapeut*innen in Ausbildung morgens regelmäßig meditierten, von deren Patient*innen signifikant besser bewertet wurden als in einer Kontrollgruppe mit nicht meditierenden Psychotherapeut*innen, sowohl hinsichtlich der Prozessqualität als auch der Ergebnisqualität.

Die Patient*innen schätzten sowohl ihre Einsichten in die Dynamik ihrer Erkrankung, als auch ihre eigenen Möglichkeiten, daran etwa zu verändern, und sogar die konkrete Symptomreduktion als besser ein.

Was aber wurde bei diesen Psychotherapeut*innen und in ihren Therapien besser wirksam?
Sie erlernten keine neuen Behandlungstechniken, keine geschickteren Interventionen, keine konkreten fallbezogenen Herangehensweisen.

Sie meditierten lediglich allmorgendlich für eine Stunde mit einem erfahrenen Zen-Meister.

Letztlich geht dabei meines Erachtens um die Entwicklung einer Haltung der Präsenz.

Einsicht darin gewinnen, was wirklich ist

In der Vipassana- oder Einsichts-Meditation gibt es (wie bei der Zen-Meditation) kein „darüber“ oder „jenseits“ des Erlebens und der Erfahrung.

So befasst sich einer der vier zentralen Bereiche der Achtsamkeitsmeditation, wie sie in den frühen buddhistischen Schriften gelehrt wird, mit der Achtsamkeit auf die sogenannten Dhammas, was der Pali-Ausdruck für „Bedingtheit der Realität“ oder auch für „Lehre“ ist.

In diesem Fall dreht sich alles um die Betrachtung der Art und Weise selbst, wie uns die Wirklichkeit begegnet. Nach dem Satipaṭṭhāna-Sutta, der buddhistischen Lehrrede vom „direkten Weg zur Befreiung“ wird das zum Beispiel konkret praktiziert, indem wir lernen, was sich uns dabei in den Weg stellt, und welche Unterstützungsmöglichkeiten wir nutzen können, um unsere Aufmerksamkeit zu lenken und gleichzeitig offenzuhalten.

In diesem Text werden als „Dhammas“ insgesamt fünf Kategorien genannt:

Da stellen sich uns Hindernisse in den Weg (fünf Hindernisse werden einzeln benannt), wenn wir uns der Vergänglichkeit der fünf Daseinsgruppen (Bewusstsein, Willensregungen, Wahrnehmung, Gefühl und materielle Form) bewusst werden. Daran schließen sich die Sinnesbereiche, die sieben Faktoren des Erwachens und die vier edlen Wahrheiten an.

Nun könnte man denken, dass das alles sehr komplex und verwirrend ist, und in der Tat fällt es zu Beginn nicht leicht, sich das alles zu merken. Darum geht es jedoch auch nicht.

Vielmehr wird hier deutlich, dass die vier Bereiche, die in diesem direkten Weg beschrieben werden, bereits so viel Tiefe in der Aufmerksamkeit auf die ganz alltägliche Wirklichkeit mit sich bringen, dass man durch die wachsende Erfahrung in der Ausübung alleine dieser Betrachtung eine umfängliche Anleitung zur bewussten Lebensführung finden kann.

Es ist kein Darüber, Dahinter oder Darunter notwendig

Diese Beschränkung auf das „Sein-an-sich“ finden wir auch in der Zen-Meditation, vor allem im Zazen, genauer dem „Shikantaza“, dem „Nur-Sitzen“ ohne Verwendung von Hilfsmittel wie Mantras, Koans, Affirmationen, Zählen der Atemzüge oder ähnlichem.

Doch das fällt nicht leicht.
Wir sind es nicht gewohnt, im So-Sein zu verweilen.

Da kann es uns helfen, unsere Aufmerksamkeit um einen Anker herum (oft ist es das Atmen) zu halten. Immer wieder zu bemerken, wie unsere Gedanken abschweifen, und zum Atem zurückzukehren, zur Körperwahrnehmung und zu einfachen Sinnesreizen.

Vor 1 1/2 Jahren schrieb ich in der allerersten Ausgabe meines Newsletters, den Sie heute in der 31. Ausgabe lesen, von Faktoren, die die Qualität der Psychotherapie verbessern, und wie sie sich durch Meditation trainieren lassen. Das klingt leicht missverständlich.
Letztlich geht es jedoch um Meditation als Ausdruck einer kontemplativen Praxis, eines sich Einübens in eine Haltung, das Erlernen einer „Technik ohne Technik“ wie es Ludwig Grepmair und Marius Nickel im Buch „Achtsamkeit des Psychotherapeuten“ schreiben.

Als ich dieses Buch las, bekam ich sofort Lust, diese Achtsamkeitspraxis auch in die Aus- und Weiterbildung unserer Teilnehmer*innen meines Instituts zu integrieren. Ich bin so überzeugt von dem, was Grepmair und Nickel herausgefunden haben, weil ich es selbst erfahre. Und ich möchte das gerne ausprobieren und gemeinsam mit psychotherapeutischen Kolleg*innen üben und weitergeben.

In meinem gestrigen Podcast mit Stefanie Hock spreche ich darüber, was für Erfahrungen ich persönlich mit meiner Achtsamkeitspraxis gewonnen habe, aber auch darüber, wie ich dazu gekommen bin, mit dem Meditieren anzufangen.

Solche persönlichen Motive braucht es meines Erachtens, aber auch einen Anstoß, eine Gemeinschaft und eine erfahrene Begleitung.

In meinem Achtsamkeitstraining für Psychotherapeut*nnen in Weiterbildung plane ich ein solches gemeinsames Meditieren online anbieten, um auszuprobieren, wie das geht.

Als Teilnehmer habe selbst sehr gute Erfahrungen mit der Vipassana@Home-Meditation mit Adriaan van Wagensveld gemacht, der seit 5 1/2 Jahren täglich von 6-7:30 Uhr mit einer Gruppe von 40-80 Teilnehmer*innen meditiert. Doch ich gehe einmal nicht davon aus, dass jede:r Zeit und Lust hat, allmorgendlich 1-2 Stunden zu meditieren.

Hätten sie Lust, mitzumachen? Dann schreiben Sie mir gerne auf diese Email, damit ich Sie in den (kleineren) Verteiler der Infos über dieses Meditationsangebot aufnehmen kann.

Und jetzt: in die Praxis.

Mit herzlichem Gruß aus Wuppertal,
Sönke Behnsen

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